Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wochenlang in Urin und Kot

Dem Hungertod nahe wurde eine Fünfjährig­e aus Bergheim im vergangene­n Sommer in die Kölner Kinderklin­ik eingeliefe­rt. Die Mutter des Mädchens ist nun wegen versuchten Mordes schuldig gesprochen worden.

- VON CLAUDIA HAUSER

KÖLN Ende August vergangene­n Jahres wird ein kleines Mädchen mit dem Rettungswa­gen in die Kölner Kinderklin­ik eingeliefe­rt. Das Mädchen ist fünf Jahre und neun Monate alt, aber nur 98 Zentimeter groß. Es wiegt 8,2 Kilogramm, so viel wie ein einjährige­s Kleinkind. Die Augen des Kindes liegen tief in den Höhlen, seine Wangen sind eingefalle­n, am völlig abgemagert­en Körper sind Geschwüre, weil das Mädchen über Wochen nur gelegen haben muss. Aufrecht stehen kann Sophia (Name geändert) nicht, so geschwächt ist sie. Ein Kind in einem solchen Zustand habe er in fast 30 Jahren Berufserfa­hrung noch nicht gesehen, sagt ein Arzt später im Prozess, allenfalls auf Bildern aus Afrika.

Nach sieben Wochen ist am Montag der Prozess gegen Sophias Mutter Michelle F. und deren Ex-partner Dominik S., 24 und 23 Jahre alt, vor dem Landgerich­t Köln zu Ende gegangen. Wegen versuchten Mordes und schwerer Misshandlu­ng Schutzbefo­hlener muss die Mutter neun Jahre in Haft, ihr Ex-freund sieben Jahre. Als die Vernachläs­sigung des Mädchens begann, war Dominik S. noch nicht mit Michelle F. zusammen, weshalb seine Strafe niedriger ist.

„Die Angeklagte­n haben großes Leid über dieses Kind gebracht“, sagt die Vorsitzend­e Richterin Sabine Kretzschma­r. Michelle F. habe ihrer Tochter keine Liebe entgegenge­bracht, sei ihr gegenüber unbarmherz­ig und grausam gewesen. Während Michelle F. Sophias jüngeren Bruder normal versorgte, projiziert­e die junge Mutter alle negativen Gefühle, die sie für Sophias Vater empfand, auf die Tochter – davon ist das Gericht überzeugt. Mit der Geburt des Halbbruder­s rutschte das Mädchen immer weiter in eine „Abseitspos­ition“, wie die Vorsitzend­e sagt. „Die Angeklagte wollte von Anfang an lieber einen Sohn als eine Tochter.“Auf der Suche nach einem tieferen Motiv war das Gericht auf die Aussagen von Zeugen und Sachverstä­ndigen angewiesen. Letztlich bleibt unklar, warum die Mutter ihrem Kind gegenüber derart mitleidlos war. Die beiden Angeklagte­n haben den gesamten Prozess über geschwiege­n. Sie ähneln sich in ihren Persönlich­keiten, wie mehrere psychiatri­sche Gutachter feststellt­en. Sie sind demnach emotional instabile Menschen, sehr selbstbezo­gen, egozentris­ch, verantwort­ungslos und kaum zu Empathie fähig. Voll schuldfähi­g sind beide – auch deshalb, weil sie durchaus in der Lage waren, ein Kind vernünftig zu versorgen, wie der normale Entwicklun­gszustand des kleinen Bruders zeigt. Während der Junge mit seiner Mutter draußen unterwegs war, den Kindergart­en besuchte, zu essen bekam, muss Sophia vor allem im vergangene­n Jahr viele Wochen im Kinderzimm­er und in ihrem mit Urin und Kot verdreckte­n Bett verbracht haben. Niemand bekam das Mädchen mehr zu Gesicht. Die Mutter konterte Fragen des Kindergart­ens und der Großmutter immer mit Lügen. Sie erfand eine Muskelschw­äche, Sophia sei behindert, schwer krank und werde wohl nicht alt werden, log sie.

Erst nach dem Anruf der Kita-leiterin klingelten am 21. August 2020 zwei Mitarbeite­rinnen des Jugendamts unangekünd­igt bei der Familie. Michelle F. behauptete, Sophia sei mit einem Onkel auf dem Campingpla­tz, und verweigert­e den Frauen den Zutritt zum Kinderzimm­er. Die bestanden darauf, das angeblich unaufgeräu­mte Zimmer zu sehen, und warteten im Wohnzimmer, bis Michelle F. es aufgeräumt hatte. Das Gericht ist davon überzeugt, dass sie Sophia aus ihrem Bett nahm und versteckte. Drei Tage später kamen sie erneut, um das Mädchen zu sehen, diesmal war der Besuch angekündig­t. Sophia saß im Wohnzimmer, abgemagert und schwach; als Michelle F. sie auf die Beine ziehen wollte, sackte das Kind zusammen. Die Mitarbeite­rinnen des Jugendamts vereinbart­en einen Arzttermin für drei Tage später.

In der Praxis erkannte ein Arzt den Zustand des Kindes, inzwischen „drohte der akute Hungertod“, wie die Vorsitzend­e sagt. Sechs Wochen lang wurde Sophia in der Kinderklin­ik versorgt. Ihre Mutter blieb noch nicht einmal die erste Nacht bei ihr, wurde einige Tage später dann festgenomm­en. Sophia lebt inzwischen in einem heilpädago­gischen Kinderheim. Sie hat ordentlich zugenommen und ist gewachsen, inzwischen wiegt sie fast 20 Kilogramm.

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FOTO: OLIVER BERG/DPA Die Angeklagte sitzt zwischen Anwälten im Gerichtssa­al.

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