Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Schuld sind immer die anderen
ANALYSE Alpha und Delta statt britische oder indische Variante: Die WHO will mit einem neuen Namenssystem für Corona-mutationen Diskriminierung vorbeugen. Andere medizinisch herabzusetzen, hat lange Tradition. Krankheitsnamen und ihre Herkunft
Sich in der Welt der Viren und Bakterien zu orientieren, bleibt eine anspruchsvolle Angelegenheit. Corona, dieser fiese, hakenschlagende Winzling, führt es uns mit seinen immer neuen Mutationen vor Augen. Mal werden sie in Großbritannien gesichtet, mal in Brasilien, mal gehen sie von Indien aus.
Doch die Varianten einfach nach jenen Ländern zu benennen, in denen sie zuerst entdeckt wurden, findet die Weltgesundheitsorganisation ( WHO) zu simpel. Mehr noch: Die Einrichtung der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf befürchtet dadurch Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen der betroffenen Nationalitäten. Nomen est omen – der Eindruck, der Name sei Programm, dürfe nicht entstehen. Stattdessen sollen nun neutrale Namen, genauer gesagt: Buchstaben des griechischen Alphabets, die Corona-mutationen bezeichnen, die als besorgniserregend oder als „Varianten von Interesse“gelten.
So heißt die zuerst in Großbritannien aufgetauchte Variante B.1.1.7 nun Alpha. Die in Südafrika entdeckte Variante B.1.351 wird zu Beta, die in Brasilien nachgewiesene Variante P.1 trägt die Bezeichnung Gamma und die zunächst in Indien gefundene Variante B.1.617.2 wird zu Delta. Die jüngst in Vietnam entdeckte Mutation steht noch nicht auf der Who-liste.
Tatsächlich werden in den USA seit Beginn der Pandemie vermehrt Angriffe auf Menschen asiatischer Herkunft registriert. Beobachter führen dies auch auf die Verbalattacken Donald Trumps zurück. Der Us-präsident hatte immer wieder vom „China-virus“gesprochen, weil der Erreger in Wuhan zuerst nachgewiesen worden war. Auch in Deutschland wird Asiaten allein aufgrund äußerlicher Merkmale absurderweise eine
Schuld für die Ausbreitung zugesprochen, wie eine Studie der Berliner Humboldt-uni belegt: 80 Prozent der mehr als 700 Teilnehmenden hatten demnach zwischen Oktober und Dezember 2020 verbale und körperliche Angriffe erlebt.
Krankheiten nach ihrer vermeintlichen Herkunft zu benennen oder Ethnien zuzuordnen, ist seit ewigen Zeiten gang und gäbe, neu dagegen allenfalls die gewachsene Sensibilität im Umgang damit. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich in Deutschland beispielsweise die Bezeichnungen Down-syndrom oder Trisomie 21 gegen „mongoloid“durchsetzen konnten.
Früher spielte Stigmatisierung keine große Rolle; sie wurde sogar bewusst eingesetzt. So hieß die Syphilis in Deutschland einst Franzosenkrankheit, in Frankreich und in Russland sprach man von der polnischen, in Polen wiederum von der deutschen Krankheit. Die Japaner fanden für die gefährliche bakterielle Infektion den blumigen Ausdruck „chinesisches Himmelsstrafengeschwür“. Wie auch immer: Schuld waren stets die anderen. Röteln heißen im Englischen übrigens noch heute „German measles“. Nun ja, damit kann man hierzulande leben.
Dafür hat sich im deutschen Sprachraum für lange Zeit die Bezeichnung „englische Krankheit“für Rachitis gehalten. Dabei handelt es sich um eine Wachstumsstörung der Knochen, die häufig auf Vitamin-d-mangel zurückzuführen ist. Obwohl es Rachitis zu allen Zeiten und überall gegeben hat, wurde sie vor allem von englischen Wissenschaftlern im 17. und im 18. Jahrhundert ausführlich dokumentiert.
Auch bei der Spanischen Grippe führt die Bezeichnung in die Irre. In Wahrheit waren es Us-soldaten, die das Virus gegen Ende des Ersten Weltkriegs nach Europa einschleppten. Erstmals erwähnt wurden die massenhaften Erkrankungen indes in der spanischen Presse, die
Malaria Der aus dem Italienischen stammende Begriff bedeutet „schlechte Luft“. Die aus den Sümpfen aufsteigenden Ausdünstungen und nicht etwa der Stich der Anopheles-mücke galten als verantwortlich für die Krankheit.
Philadelphia-chromosom Bei manchen Leukämie-patienten findet sich ein verkürztes Chromosom 22. Zwei Us-forscher brachten es 1960 in Verbindung mit der Entstehung von Blutkrebs. Ort ihrer Entdeckung war die Stadt im Us-staat Pennsylvania.
Schweinegrippe Die Variante des Influenza-a-virus H1N1 wies zwar Teile des Erbguts von Grippeviren aus Schweinen und Vögeln auf, übertragen wurde sie aber von Mensch zu Mensch. Dennoch hieß die Infektion im Volksmund Schweinegrippe, was dazu führte, dass in einigen Ländern unsinnigerweise sogar die Einfuhr von Schweinefleisch verboten wurde.
Noch ein Tier, das für eine Krankheit verunglimpft wird? Mitnichten. Der Krankheitsname geht auf das Verb „starren“zurück – jener Blick, den Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Eintrübung der Augenlinse oft aufweisen. damals keiner so strikten Zensur unterworfen war wie die anderer Länder.
Dagegen wurde das Schmallenberg-virus tatsächlich im Sauerland gefunden. Dort waren einige Rinder an einem bis dato unbekannten Erreger erkrankt. Forscher des Friedrich-loefflerInstituts wiesen ihn im Jahr 2011 erstmals nach – und benannten ihn in althergebrachter Weise. Der Attraktivität Schmallenbergs als Urlaubsziel hat das keinen Abbruch getan, zumal das Virus für Menschen nicht schädlich ist.
Das malerische Marburg stand unfreiwillig Pate bei der Namensgebung für ein echtes Killervirus, das Menschen innerlich verbluten lässt. 1967 starben mehrere Laborangestellte der Marburger Behring-werke, nachdem sie in Kontakt mit Äthiopischen Grünmeerkatzen gekommen waren. Das Pharmaunternehmen hatte die Affenart zur Erforschung von Impfstoffen gegen Masern und Kinderlähmung genutzt. Krankheitsfälle wurden in Deutschland seither nicht mehr bekannt, im Kongo und in Angola starben bei Epidemien mehrere Hundert Menschen durch das Marburg-virus. Die USA haben es als potenziellen biologischen Kampfstoff der höchsten Gefahrenklasse eingestuft.
Deutlich bekannter, weil mit erheblich höheren Sterbezahlen verbunden, ist Ebola. Die wenigsten wissen, dass ein Fluss, der sich durch die Republik Kongo schlängelt, 1976 zum Namensgeber avancierte, weil unweit seines Verlaufs der erste Ausbruch der Seuche dokumentiert wurde. Unter der weltweit schwersten Epidemie litt Westafrika in den Jahren 2014 bis 2016, stark betroffen sind seit 2018 Ostkongo und Uganda.
Einstweilen aber bleibt die aktuelle Corona-pandemie Topthema – und die Lage reichlich unübersichtlich. Noch ist unklar, wie es mit der Benennung der Corona-mutationen weitergeht, sollte ihre Zahl die der Buchstaben des griechischen Alphabets übersteigen – es sind 24. Nicht nur aus diesem Grund bleibt zu hoffen, dass dieser Fall niemals eintreten möge.
Bei den Japanern hieß die Syphilis „chinesisches Himmelsstrafengeschwür“