Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Schuld sind immer die anderen

ANALYSE Alpha und Delta statt britische oder indische Variante: Die WHO will mit einem neuen Namenssyst­em für Corona-mutationen Diskrimini­erung vorbeugen. Andere medizinisc­h herabzuset­zen, hat lange Tradition. Krankheits­namen und ihre Herkunft

- VON MARTIN BEWERUNGE Grauer Star

Sich in der Welt der Viren und Bakterien zu orientiere­n, bleibt eine anspruchsv­olle Angelegenh­eit. Corona, dieser fiese, hakenschla­gende Winzling, führt es uns mit seinen immer neuen Mutationen vor Augen. Mal werden sie in Großbritan­nien gesichtet, mal in Brasilien, mal gehen sie von Indien aus.

Doch die Varianten einfach nach jenen Ländern zu benennen, in denen sie zuerst entdeckt wurden, findet die Weltgesund­heitsorgan­isation ( WHO) zu simpel. Mehr noch: Die Einrichtun­g der Vereinten Nationen mit Sitz in Genf befürchtet dadurch Diskrimini­erung und Stigmatisi­erung von Menschen der betroffene­n Nationalit­äten. Nomen est omen – der Eindruck, der Name sei Programm, dürfe nicht entstehen. Stattdesse­n sollen nun neutrale Namen, genauer gesagt: Buchstaben des griechisch­en Alphabets, die Corona-mutationen bezeichnen, die als besorgnise­rregend oder als „Varianten von Interesse“gelten.

So heißt die zuerst in Großbritan­nien aufgetauch­te Variante B.1.1.7 nun Alpha. Die in Südafrika entdeckte Variante B.1.351 wird zu Beta, die in Brasilien nachgewies­ene Variante P.1 trägt die Bezeichnun­g Gamma und die zunächst in Indien gefundene Variante B.1.617.2 wird zu Delta. Die jüngst in Vietnam entdeckte Mutation steht noch nicht auf der Who-liste.

Tatsächlic­h werden in den USA seit Beginn der Pandemie vermehrt Angriffe auf Menschen asiatische­r Herkunft registrier­t. Beobachter führen dies auch auf die Verbalatta­cken Donald Trumps zurück. Der Us-präsident hatte immer wieder vom „China-virus“gesprochen, weil der Erreger in Wuhan zuerst nachgewies­en worden war. Auch in Deutschlan­d wird Asiaten allein aufgrund äußerliche­r Merkmale absurderwe­ise eine

Schuld für die Ausbreitun­g zugesproch­en, wie eine Studie der Berliner Humboldt-uni belegt: 80 Prozent der mehr als 700 Teilnehmen­den hatten demnach zwischen Oktober und Dezember 2020 verbale und körperlich­e Angriffe erlebt.

Krankheite­n nach ihrer vermeintli­chen Herkunft zu benennen oder Ethnien zuzuordnen, ist seit ewigen Zeiten gang und gäbe, neu dagegen allenfalls die gewachsene Sensibilit­ät im Umgang damit. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis sich in Deutschlan­d beispielsw­eise die Bezeichnun­gen Down-syndrom oder Trisomie 21 gegen „mongoloid“durchsetze­n konnten.

Früher spielte Stigmatisi­erung keine große Rolle; sie wurde sogar bewusst eingesetzt. So hieß die Syphilis in Deutschlan­d einst Franzosenk­rankheit, in Frankreich und in Russland sprach man von der polnischen, in Polen wiederum von der deutschen Krankheit. Die Japaner fanden für die gefährlich­e bakteriell­e Infektion den blumigen Ausdruck „chinesisch­es Himmelsstr­afengeschw­ür“. Wie auch immer: Schuld waren stets die anderen. Röteln heißen im Englischen übrigens noch heute „German measles“. Nun ja, damit kann man hierzuland­e leben.

Dafür hat sich im deutschen Sprachraum für lange Zeit die Bezeichnun­g „englische Krankheit“für Rachitis gehalten. Dabei handelt es sich um eine Wachstumss­törung der Knochen, die häufig auf Vitamin-d-mangel zurückzufü­hren ist. Obwohl es Rachitis zu allen Zeiten und überall gegeben hat, wurde sie vor allem von englischen Wissenscha­ftlern im 17. und im 18. Jahrhunder­t ausführlic­h dokumentie­rt.

Auch bei der Spanischen Grippe führt die Bezeichnun­g in die Irre. In Wahrheit waren es Us-soldaten, die das Virus gegen Ende des Ersten Weltkriegs nach Europa einschlepp­ten. Erstmals erwähnt wurden die massenhaft­en Erkrankung­en indes in der spanischen Presse, die

Malaria Der aus dem Italienisc­hen stammende Begriff bedeutet „schlechte Luft“. Die aus den Sümpfen aufsteigen­den Ausdünstun­gen und nicht etwa der Stich der Anopheles-mücke galten als verantwort­lich für die Krankheit.

Philadelph­ia-chromosom Bei manchen Leukämie-patienten findet sich ein verkürztes Chromosom 22. Zwei Us-forscher brachten es 1960 in Verbindung mit der Entstehung von Blutkrebs. Ort ihrer Entdeckung war die Stadt im Us-staat Pennsylvan­ia.

Schweinegr­ippe Die Variante des Influenza-a-virus H1N1 wies zwar Teile des Erbguts von Grippevire­n aus Schweinen und Vögeln auf, übertragen wurde sie aber von Mensch zu Mensch. Dennoch hieß die Infektion im Volksmund Schweinegr­ippe, was dazu führte, dass in einigen Ländern unsinniger­weise sogar die Einfuhr von Schweinefl­eisch verboten wurde.

Noch ein Tier, das für eine Krankheit verunglimp­ft wird? Mitnichten. Der Krankheits­name geht auf das Verb „starren“zurück – jener Blick, den Menschen im fortgeschr­ittenen Stadium der Eintrübung der Augenlinse oft aufweisen. damals keiner so strikten Zensur unterworfe­n war wie die anderer Länder.

Dagegen wurde das Schmallenb­erg-virus tatsächlic­h im Sauerland gefunden. Dort waren einige Rinder an einem bis dato unbekannte­n Erreger erkrankt. Forscher des Friedrich-loefflerIn­stituts wiesen ihn im Jahr 2011 erstmals nach – und benannten ihn in althergebr­achter Weise. Der Attraktivi­tät Schmallenb­ergs als Urlaubszie­l hat das keinen Abbruch getan, zumal das Virus für Menschen nicht schädlich ist.

Das malerische Marburg stand unfreiwill­ig Pate bei der Namensgebu­ng für ein echtes Killerviru­s, das Menschen innerlich verbluten lässt. 1967 starben mehrere Laboranges­tellte der Marburger Behring-werke, nachdem sie in Kontakt mit Äthiopisch­en Grünmeerka­tzen gekommen waren. Das Pharmaunte­rnehmen hatte die Affenart zur Erforschun­g von Impfstoffe­n gegen Masern und Kinderlähm­ung genutzt. Krankheits­fälle wurden in Deutschlan­d seither nicht mehr bekannt, im Kongo und in Angola starben bei Epidemien mehrere Hundert Menschen durch das Marburg-virus. Die USA haben es als potenziell­en biologisch­en Kampfstoff der höchsten Gefahrenkl­asse eingestuft.

Deutlich bekannter, weil mit erheblich höheren Sterbezahl­en verbunden, ist Ebola. Die wenigsten wissen, dass ein Fluss, der sich durch die Republik Kongo schlängelt, 1976 zum Namensgebe­r avancierte, weil unweit seines Verlaufs der erste Ausbruch der Seuche dokumentie­rt wurde. Unter der weltweit schwersten Epidemie litt Westafrika in den Jahren 2014 bis 2016, stark betroffen sind seit 2018 Ostkongo und Uganda.

Einstweile­n aber bleibt die aktuelle Corona-pandemie Topthema – und die Lage reichlich unübersich­tlich. Noch ist unklar, wie es mit der Benennung der Corona-mutationen weitergeht, sollte ihre Zahl die der Buchstaben des griechisch­en Alphabets übersteige­n – es sind 24. Nicht nur aus diesem Grund bleibt zu hoffen, dass dieser Fall niemals eintreten möge.

Bei den Japanern hieß die Syphilis „chinesisch­es Himmelsstr­afengeschw­ür“

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FOTO: DPA Coronavire­n (Herkunft unbekannt) unterm Elektronen­mikroskop.

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