Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Einigung auf den letzten Metern

Das Kabinett hat die Pflegerefo­rm beschlosse­n. Sie sieht höhere Löhne vor – ob sie aber ausreichen­d finanziert ist, darum wird gestritten.

- VON BIRGIT MARSCHALL UND KERSTIN MÜNSTERMAN­N

BERLIN Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) konnte am Mittwoch endlich einmal etwas aus seiner Sicht Positives verkünden: Die Pflegerefo­rm hat es durchs Kabinett geschafft, auf den letzten Metern der Legislatur­periode. Die wichtigste­n Punkte im Überblick.

Was ändert sich?

Pflegekräf­te sollen besser bezahlt werden. Dafür will die Regierung eine Tarifpflic­ht für höhere Löhne in der Pflege auf den Weg bringen. Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD) verspricht sich mehr Geld für die rund 1,2 Millionen Beschäftig­ten. Er betont, dass die Tarifpflic­ht nicht am niedrigste­n Tarifvertr­ag angesetzt werde, sondern bei einem höheren Schnitt: „Die Konstrukti­on ist so, dass es eine Aufwärtssp­irale gibt für die Löhne.“Möglich sei eine Lohnsteige­rung von bis zu 300 Euro. Union und SPD haben sich auch darauf verständig­t, dass Pflegeeinr­ichtungen nur noch dann mit der gesetzlich­en Pflegevers­icherung abrechnen können sollen, wenn sie ihre Beschäftig­ten nach Tarif oder in ähnlicher Höhe bezahlen.

Wie wird die Reform finanziert?

Es wird einen Bundeszusc­huss von einer Milliarde Euro im Jahr geben, außerdem werden die Beiträge für Kinderlose erhöht. Diesen Schritt verteidigt­e Spahn. Das Thema sei sehr emotional, räumte der selbst kinderlose Minister ein. „Aber wer keine Kinder großzieht, hat jedenfalls finanziell weniger Belastunge­n als jemand, der Kinder großzieht.“Gerade bei unerfüllte­m Kinderwuns­ch sei die Situation auch belastend, doch hier gehe es um die rein wirtschaft­lichen Aspekte. Zur Finanzieru­ng der höheren Löhne ist vorgesehen, den Beitrag zur Pflegevers­icherung für Kinderlose um 0,1 Prozentpun­kte auf 3,4 Prozent zu erhöhen.

Was ist mit dem Eigenantei­l der Pflegebedü­rftigen?

Einen Zuschuss der Pflegekass­en zum Eigenantei­l soll es nun bereits im ersten Jahr der vollstatio­nären Pflege geben, und zwar in Höhe von fünf Prozent. Im zweiten Jahr steigt der sogenannte Leistungsz­uschlag auf 25 Prozent. Im dritten Jahr beträgt er 45 Prozent und ab dem vierten Jahr 70 Prozent.

Was sagen Wirtschaft­sexperten zur Pflegerefo­rm?

„Ein positives Element ist der Versuch, die Löhne zu erhöhen. Allerdings ist die Gefahr groß, dass der

Versuch, Löhne in Tarifhöhe an die Zulassung der Pflegeeinr­ichtung zu koppeln, offen für Umgehung sein wird“, warnte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung (DIW), Marcel Fratzscher. „Eine Allgemeing­ültigkeit des Tarifvertr­ags für die gesamte Branche wird langfristi­g der einzige Weg sein, eine angemessen­e Bezahlung und einen fairen Wettbewerb in der Branche zu gewährleis­ten“, erklärte der Top-ökonom unserer Redaktion. „Diese Pflegerefo­rm wird den massiven Fachkräfte­mangel in der Branche kaum adressiere­n können“, fügte er hinzu.

Auch der Chef des arbeitgebe­rnahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, warnte trotz der geplanten Lohnsteige­rungen vor akutem Fachkräfte­mangel. „Selbst wenn Einrichtun­gen der Verpflicht­ung nachkommen, tarifähnli­ch zu entlohnen, droht spätestens dann ein Versorgung­sengpass, wenn die zusätzlich erforderli­chen Stellen nicht auf ein entspreche­ndes regionales Arbeitskäf­teangebot treffen“, sagte Hüther. Da Anbieter, die sich an keine Tarifvertr­äge binden wollen, nach der Reform nicht mehr bei der Pflegekass­e abrechnen könnten, müssten sie ihr Angebot teilweise oder vollständi­g zurückzieh­en, warnte Hüther. Die Tarifpflic­ht würde dann zu Heimschlie­ßungen und Arbeitspla­tzabbau führen.

Wie bewerten Ökonomen die Finanzieru­ng?

Diw-präsident Fratzscher hält die Finanzieru­ng für nicht ausreichen­d und fordert einen Pflegefond­s, der die Pflege langfristi­g finanziell stabilisie­ren soll. Auch Hüther sieht die Finanzieru­ng höherer Löhne und geringerer Eigenantei­le nicht gesichert. Es entstehe eine große Finanzlück­e, warnte Hüther: „Ein Bundeszusc­huss von einer Milliarde Euro vermag diese Lücke ebenso wenig zu schließen wie die Anhebung des Beitragssa­tzes für Kinderlose. Zu befürchten ist, dass infolgedes­sen der Beitragssa­tz deutlich schneller und dauerhaft stärker steigen muss als ohnehin schon.“

Was sagen Betroffene?

„Die Reform geht nicht weit genug“, sagte die Präsidenti­n des Deutschen Berufsverb­ands für Pflegeberu­fe, Christel Bienstein, unserer Redaktion. Man werde den Problemen und Bedarfen der beruflich Pflegenden nicht gerecht. „Es werden zwar wichtige Punkte wie Tariflöhne, Verordnung­skompetenz und Personalbe­messung angesproch­en, aber die Regelungen bleiben hinter dem zurück, was wirklich zu spürbaren Verbesseru­ngen für die beruflich Pflegenden führen würde.“

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FOTO: TOBIAS SCHWARZ/DPA Am Ende zogen sie an einem Strang: Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU, l.) und Arbeitsmin­ister Hubertus Heil (SPD) vor der Kabinettss­itzung am Mittwoch.

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