Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Einigung auf den letzten Metern
Das Kabinett hat die Pflegereform beschlossen. Sie sieht höhere Löhne vor – ob sie aber ausreichend finanziert ist, darum wird gestritten.
BERLIN Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) konnte am Mittwoch endlich einmal etwas aus seiner Sicht Positives verkünden: Die Pflegereform hat es durchs Kabinett geschafft, auf den letzten Metern der Legislaturperiode. Die wichtigsten Punkte im Überblick.
Was ändert sich?
Pflegekräfte sollen besser bezahlt werden. Dafür will die Regierung eine Tarifpflicht für höhere Löhne in der Pflege auf den Weg bringen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verspricht sich mehr Geld für die rund 1,2 Millionen Beschäftigten. Er betont, dass die Tarifpflicht nicht am niedrigsten Tarifvertrag angesetzt werde, sondern bei einem höheren Schnitt: „Die Konstruktion ist so, dass es eine Aufwärtsspirale gibt für die Löhne.“Möglich sei eine Lohnsteigerung von bis zu 300 Euro. Union und SPD haben sich auch darauf verständigt, dass Pflegeeinrichtungen nur noch dann mit der gesetzlichen Pflegeversicherung abrechnen können sollen, wenn sie ihre Beschäftigten nach Tarif oder in ähnlicher Höhe bezahlen.
Wie wird die Reform finanziert?
Es wird einen Bundeszuschuss von einer Milliarde Euro im Jahr geben, außerdem werden die Beiträge für Kinderlose erhöht. Diesen Schritt verteidigte Spahn. Das Thema sei sehr emotional, räumte der selbst kinderlose Minister ein. „Aber wer keine Kinder großzieht, hat jedenfalls finanziell weniger Belastungen als jemand, der Kinder großzieht.“Gerade bei unerfülltem Kinderwunsch sei die Situation auch belastend, doch hier gehe es um die rein wirtschaftlichen Aspekte. Zur Finanzierung der höheren Löhne ist vorgesehen, den Beitrag zur Pflegeversicherung für Kinderlose um 0,1 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent zu erhöhen.
Was ist mit dem Eigenanteil der Pflegebedürftigen?
Einen Zuschuss der Pflegekassen zum Eigenanteil soll es nun bereits im ersten Jahr der vollstationären Pflege geben, und zwar in Höhe von fünf Prozent. Im zweiten Jahr steigt der sogenannte Leistungszuschlag auf 25 Prozent. Im dritten Jahr beträgt er 45 Prozent und ab dem vierten Jahr 70 Prozent.
Was sagen Wirtschaftsexperten zur Pflegereform?
„Ein positives Element ist der Versuch, die Löhne zu erhöhen. Allerdings ist die Gefahr groß, dass der
Versuch, Löhne in Tarifhöhe an die Zulassung der Pflegeeinrichtung zu koppeln, offen für Umgehung sein wird“, warnte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. „Eine Allgemeingültigkeit des Tarifvertrags für die gesamte Branche wird langfristig der einzige Weg sein, eine angemessene Bezahlung und einen fairen Wettbewerb in der Branche zu gewährleisten“, erklärte der Top-ökonom unserer Redaktion. „Diese Pflegereform wird den massiven Fachkräftemangel in der Branche kaum adressieren können“, fügte er hinzu.
Auch der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, warnte trotz der geplanten Lohnsteigerungen vor akutem Fachkräftemangel. „Selbst wenn Einrichtungen der Verpflichtung nachkommen, tarifähnlich zu entlohnen, droht spätestens dann ein Versorgungsengpass, wenn die zusätzlich erforderlichen Stellen nicht auf ein entsprechendes regionales Arbeitskäfteangebot treffen“, sagte Hüther. Da Anbieter, die sich an keine Tarifverträge binden wollen, nach der Reform nicht mehr bei der Pflegekasse abrechnen könnten, müssten sie ihr Angebot teilweise oder vollständig zurückziehen, warnte Hüther. Die Tarifpflicht würde dann zu Heimschließungen und Arbeitsplatzabbau führen.
Wie bewerten Ökonomen die Finanzierung?
Diw-präsident Fratzscher hält die Finanzierung für nicht ausreichend und fordert einen Pflegefonds, der die Pflege langfristig finanziell stabilisieren soll. Auch Hüther sieht die Finanzierung höherer Löhne und geringerer Eigenanteile nicht gesichert. Es entstehe eine große Finanzlücke, warnte Hüther: „Ein Bundeszuschuss von einer Milliarde Euro vermag diese Lücke ebenso wenig zu schließen wie die Anhebung des Beitragssatzes für Kinderlose. Zu befürchten ist, dass infolgedessen der Beitragssatz deutlich schneller und dauerhaft stärker steigen muss als ohnehin schon.“
Was sagen Betroffene?
„Die Reform geht nicht weit genug“, sagte die Präsidentin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe, Christel Bienstein, unserer Redaktion. Man werde den Problemen und Bedarfen der beruflich Pflegenden nicht gerecht. „Es werden zwar wichtige Punkte wie Tariflöhne, Verordnungskompetenz und Personalbemessung angesprochen, aber die Regelungen bleiben hinter dem zurück, was wirklich zu spürbaren Verbesserungen für die beruflich Pflegenden führen würde.“