Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Erinnern verboten

Wer in Hongkong des Tiananmen-massakers in Peking vor 32 Jahren gedenken möchte, muss mit langen Gefängniss­trafen rechnen. Diese neue Härte gegen Demonstran­ten ist eine deutliche Botschaft an Chinas Kritiker.

- VON FABIAN KRETSCHMER

PEKING Wie ernst die Hongkonger Behörden ihre Null-toleranz-politik meinen, beweist der Fall Alexandra Wong: Die 65-Jährige – innerhalb der Protestbew­egung eine lokale Berühmthei­t – ist am Montag zum chinesisch­en Verbindung­sbüro aufgebroch­en, um des Tiananmen-massakers vor 32 Jahren zu gedenken. „Ich bin doch nur alleine hier, eine alte Frau. Wieso halten Sie mich an?“, soll sie laut Medienberi­chten den eingreifen­den Polizisten gesagt haben. Wenig später haben sie Wong verhaftet – wegen einer „nicht autorisier­ten Versammlun­g“.

Dieses Jahr bildet einen Wendepunkt in der Erinnerung­skultur Hongkongs. Zwar sind auf dem chinesisch­en Festland seit jeher sämtliche Informatio­nen über die Pekinger Studentenp­roteste von 1989 ausradiert: in den staatlich kontrollie­rten Medien, den Online-enzyklopäd­ien und den sozialen Medien. Doch in der bis 1997 britischen Kronkoloni­e Hongkong gab es immer die Tradition des stillen Gedenkens: Die Bewohner der Finanzmetr­opole zogen stets in den Victoria-park, um Kerzen anzuzünden und an die Hunderten, ja vielleicht Tausenden Toten von damals zu erinnern.

Doch bereits im Vorjahr haben die Behörden die Veranstalt­ung verboten, offiziell wegen der CoronaPand­emie. Trotz allem haben sich damals Tausende Mutige der Anweisung der Behörden widersetzt. Mindestens 26 Politiker der Opposition­sbewegung wurden seither für die Organisati­on der Veranstalt­ung angeklagt. 2021 möchte der Sicherheit­sapparat bereits vorher härter durchgreif­en: Wer am Freitag an der Gedenkvera­nstaltung teilnimmt, ja diese bloß auf sozialen Medien bewirbt, muss mit einer Strafe von bis zu fünf Jahren Haft rechnen.

„Die Mahnwache bot den stärksten Beweis, dass Hongkongs Freiheiten intakt bleiben“, heißt es in einem Artikel der „South China Morning Post“: „Eine Erlaubnis für die Veranstalt­ung wäre der beste Weg für Peking, um der Kritik zu entgehen, die Meinungsfr­eiheit in Hongkong werde unterdrück­t.“Doch dieses Argument ist geradezu naiv: Den Parteikade­rn Chinas geht es vor allem darum, eine Botschaft der Angst an Kritiker zu senden. Seit Peking im Juli 2020 Hongkong ein „Gesetz für nationale Sicherheit“aufgezwung­en hat, steht praktisch jede politische Kritik am System Festlandch­inas unter Strafe.

Auch wenn das Tiananmen-gedenken offiziell wegen Corona verboten wird, ist das epidemiolo­gische Argument absurd: Kinos dürfen in Hongkong längst bei einer Auslastung von 75 Prozent öffnen, und im lokalen Fußballsta­dion kamen kürzlich 8000 Fans für ein Public-viewing-event zusammen. Seit etwa einem Monat kann jede lokale Ansteckung in der Finanzmetr­opole genauesten­s zurückverf­olgt werden.

Lokale Medien sind voller Berichte, die auf den veränderte­n Normalzust­and hindeuten – etwa über eingeschüc­hterte Lehrer, die ihre Schüler nicht mehr über die Ereignisse vom 4. Juni 1989 aufklären. Denn selbst der Akt des Erinnerns kann laut Sicherheit­sgesetz als „Subversion“interpreti­ert werden – und eine Gefängniss­trafe nach sich ziehen.

„Hongkong war eine Stadt der freien Welt, doch längst ist sie verloren“, sagt der 53-jährige Wuer Kaixi, der die Proteste von 1989 als Student angeführt hat und mittlerwei­le im Exil in Taiwan lebt. Ob er seinen Protest von damals als vergebens wahrnimmt? „Wir haben den Kampf verloren, aber den Grundstein für die Siege anderer gelegt“, sagt er. Doch Chinas kommunisti­sche Führung sei nun nicht mehr nur eine Bedrohung für das eigene Volk, sondern auch für die Weltgemein­schaft. „Ich zeige mit meinem Finger auf die Länder, die das ermöglicht haben“, sagt er – und meint allen voran die westliche Staatengem­einschaft, die mit ihren China-geschäften den Aufstieg des Landes beschleuni­gte.

Während Wuer Kaixi im Exil lebt, sind viele seiner Mitstreite­r längst gebrochen oder in Haft. Die Organisati­on „Chinese Human Rights Defenders“dokumentie­rt ihre Spuren: Der Ex-staatsanwa­lt Shen Liangqing, der 1989 Demonstrat­ionen in der zentralchi­nesischen Stadt Hefei organisier­t hat, wurde am 15. Mai 2019 beim Gassigehen mit seinem Hund von den Sicherheit­skräften abgeführt. Der damalige Student Chen Shuqing sitzt mittlerwei­le seine zweite langjährig­e Haftstrafe ab: zehneinhal­b Jahre für „Subversion“.

Doch es gibt auch eine dritte Gruppe ehemaliger Tiananmen-anhänger: diejenigen, die sich dem System mittlerwei­le gebeugt haben und es verteidige­n. Auch Hu Xijin, Chefredakt­eur der ultranatio­nalistisch­en Parteizeit­ung „Global Times“, war damals auf dem Platz dabei. Heute schreibt er Leitartike­l, in denen er die brutale Unterdrück­ung der Demokratie­bewegung verteidigt.

Ein Hongkonger Sozialarbe­iter, der aus Angst vor Repressali­en anonym bleiben möchte, erinnert sich an die Gedenkdemo­nstratione­n der letzten Jahre: „Für mich war Tiananmen eine historisch­e Narbe“, sagt er. „Die Bedeutung des Gedenkens hat sich für mich über die Jahre verändert: Ging es zunächst vor allem um die Trauer um die Toten, ist es mittlerwei­le für mich vor allem eine Erinnerung an den Terror der Regierung der kommunisti­schen Partei.“

Dass das diesjährig­e Verbot zum Ende des Gedenkens führt, glaubt der Hongkonger nicht: „Wir haben seit 2019 gelernt, formlos wie Wasser zu sein. Es werden überall in der Stadt Kerzen brennen, nicht zuletzt auch in den sozialen Medien.“

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FOTO: VINCENT YU/AP Normalerwe­ise gedenken die Hongkonger mit Kerzen auf dem Victoria-park der Opfer des Tiananmen-massakers, wie diese Bilder von 1997 bis 2020 zeigen. Doch das ist nun strafbar.

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