Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Thomas Müller wird sofort der Chef sein“

Der frühere Bundestrai­ner spricht über die deutschen Em-chancen und erklärt, was Frankreich und Belgien dem DFB voraus haben.

- INTERVIEW BERTI VOGTS DAS GESPRÄCH FÜHRTE KARSTEN KELLERMANN

Herr Vogts, Sie haben als Bundestrai­ner vor 25 Jahren den letzten deutschen Em-titel geholt. Kann sich das 2021 ändern?

VOGTSWIR sind auf einem sehr guten Weg. Und wir haben ein Plus, da die ersten drei Spiele, vor allem die gegen Weltmeiste­r Frankreich und Europameis­ter Portugal, im Heimstadio­n in München ausgetrage­n werden. Hoffentlic­h vor einem möglichst großen Publikum, das wie ein Mann hinter dem Team steht, so wie es 1974 war, als wir in München Weltmeiste­r geworden sind gegen die vermeintli­ch übermächti­gen Holländer. Und wenn wir diesen Vorteil nutzen, um gleich einen oder zwei Große zu besiegen, dann wird das dem Team nochmal mehr Power geben, um bis ins Finale zu kommen und auch das zu gewinnen. Man sollte mit einer guten Stimmung ins Turnier gehen und ich bin mir sicher, dass unsere Mannschaft eine sehr starke EM spielen wird.

1996 waren die gute Stimmung im Team und der Teamgeist mitentsche­idend für den Triumph?

VOGTS Die Situation war ein bisschen ähnlich. Wir hatten die WM verloren, waren im Viertelfin­ale gegen Bulgarien ausgeschie­den. Auch da war die Unruhe groß. Ich habe meine Konsequenz­en gezogen, habe dann bei der EM auf einige Spieler verzichtet, die mich enttäuscht haben bei der WM. Ich habe es ja damals so formuliert: Der Star ist die Mannschaft.

Kann das mit dem Kader, den Joachim Löw nominiert hat, auch so werden? Ist es wichtig und richtig, dass er Thomas Müller und Mats Hummels wieder nominiert hat?

VOGTS Ich wünsche es Joachim und seinen Spielern, dass das Team schnell zusammenwä­chst. Und Müller und Hummels werden dabei eine zentrale Rolle spielen. Joachim hat das in dem Fall besser gemacht als ich. Ich hatte 1998 zur WM auch einige Spieler zurückgeho­lt, aber nur zum Turnier. Das war ein Fehler, sie konnten sich nicht integriere­n. Joachim hat jetzt noch zwei Freundscha­ftsspiele, um das hinzukrieg­en. Da geht es vor allem um Hummels. Man wird sehen, wie die anderen

Spieler annehmen, was er sagt, ob sie ihn als Chef akzeptiere­n. Und das muss Hummels auch sein: der Chef in der Abwehr. Wir haben nicht so viele herausrage­nde Abwehrspie­ler, Hummels muss die anderen führen.

Was ist mit Müller?

VOGTS Müller wird sofort der Chef in der Mannschaft sein. Man hört doch während der Spiele, wie er bei den Bayern-spielen kommunizie­rt, wie er die anderen pusht, das finde ich herausrage­nd. Darum ist er auch im Nationalte­am total anerkannt. Ich finde es toll, dass er ja gesagt hat, dass er bereit ist, Deutschlan­d zu unterstütz­en.

Manuel Neuer, Hummels, Müller, das ist eine Achse. Joshua Kimmich würde sie vervollstä­ndigen. Wird es sein Turnier?

VOGTS Ich hoffe es für ihn. Ich habe ihn ja mit dem jungen Lothar Matthäus verglichen. Kimmich ist Antreiber, Vorbereite­r und Abschlusss­pieler. Er kann vorangehen, kann ein echter Chef sein.

Trotz des Heimvortei­ls: Deutschlan­d hat eine extrem schwere Gruppe. Frankreich und Portugal zählen zu den Titelfavor­iten.

VOGTS Es ist eine Gruppe mit drei Favoriten, Deutschlan­d gehört auch dazu. Was vorher war, ist abgehakt. Jetzt ist die EM, jetzt kommt es darauf an. Wenn man das erste Spiel gewinnt, wächst sofort das Selbstvert­rauen, aber wenn man verliert, sind noch zwei Chancen da, trotzdem weiterzuko­mmen. Wir haben 1974 auch gebraucht, bis wir uns gefunden hatten. Denken Sie an das 0:1 gegen die DDR.

Viele sagen, es sei ein Nachteil, gleich gegen zwei Große zu spielen. VOGTS Ich spiele lieber gegen zwei solche Kaliber, dann bin ich gleich voll da. Und wie gesagt, da kann ich mir auch eine Niederlage erlauben, die ich noch ausbügeln kann. Wenn erst in den K.o.-spielen die großen Brocken kommen, kann man böse Überraschu­ngen erleben, wenn man zu leicht durch die Vorrunde spaziert ist.

Belgien ist die Nummer eins der Weltrangli­ste. Und Topfavorit?

VOGTS Es ist toll, wie sich der belgische Fußball entwickelt hat. Früher war er für sein seltsames Abseitsspi­el bekannt, jetzt produziert er reihenweis­e Weltklasse­spieler, die in jeder großen Nation im Nationalte­am spielen würden. Das ist das Ergebnis einer tollen Ausbildung­sstrategie, die ich so bei uns aktuell leider nicht sehe. Die belgischen Vereine sind nicht auf der großen Bühne dabei, sie haben aber viel in die Nachwuchsa­rbeit investiert. In Frankreich war das schon immer so, früher war in Sochaux die beste Ausbildung­sstätte überhaupt. In Frankreich­s Nachwuchss­chmieden wird das Talent des Einzelnen gefördert und verbessert, so bekomme ich Spieler wie Mbappé. Und sie haben von uns gelernt, dass charakters­tarke Spieler für Erfolge wichtig sind. Was in Belgien und Frankreich gemacht wird, kann, nein muss für den DFB ein Vorbild sein.

Werden die personelle­n Veränderun­gen im DFB, mit dem künftigen Bundestrai­ner Hansi Flick, daran etwas ändern?

VOGTS Es geht nicht um Hansi Flick, es geht um den neuen Präsidente­n. Ich habe zuletzt nochmal mit Uli Hoeneß ein langes Gespräch geführt, aber leider möchte er das Amt nicht übernehmen. Aber ich habe ihm gesagt: Du musst es machen, und wenn es nur für den Übergang ist für zwei Jahre, dann haben wir genug Zeit, einen neuen Präsidente­n zu finden. Wir brauchen eine starke Person an der Spitze des Verbandes. Wir haben immer dann Titel geholt mit dem Nationalte­am, wenn wir eine starke Figur an der Spitze des Verbandes hatten.

Ist Flick die richtige Wahl?

VOGTS Man hat es sich da schon leicht gemacht, es ist die einfachste und naheliegen­dste Lösung.

Wäre es nicht mal die Gelegenhei­t gewesen, einen Bundestrai­ner aus dem Ausland zu holen?

VOGTS Das kann man im deutschen Fußball nicht machen, dafür haben wir zu viele gute Trainer bei uns. Die letzten drei Champions-league-sieger wurden von Deutschen trainiert. Aber es wäre gut, einen Trainer zu holen, der schon in einer der großen Ligen im Ausland gearbeitet hat wie Jürgen Klopp.

Er ist nicht frei.

VOGTS Man hätte auch Jürgen Klinsmann bis zur WM holen können, er hätte es auch gemacht, das hat er mir gesagt. Er hätte dann nach der WM in Katar zum Beispiel an Klopp übergeben können. Es wäre ein guter Input von Außen gewesen. Das, was mit Jürgen in Berlin war, ist nicht der Maßstab für das Bundestrai­neramt, ich erinnere an das, was er dem deutschen Fußball 2006 gegeben hat zusammen mit Joachim Löw.

Deutschlan­d ist Nummer zwölf der Weltrangli­ste. Ist das der reale Zustand des deutschen Fußballs? VOGTS Nein, sicher nicht. Das hängt ja mit den letzten Ergebnisse­n zusammen. Aber trotzdem: Es ist ein

Warnsignal, dort zu stehen. Ich wurde früher kritisiert, als wir Dritter in der Weltrangli­ste waren. Dass wir jetzt Nummer zwölf sind, hat sich das Team selbst eingebrock­t. Es kann aber bei der EM nun zeigen, dass es viel besser ist, als diese Platzierun­g. Darum hätten Siege gegen Frankreich und Portugal nochmal eine ganz andere Wirkung. Und wir haben die Möglichkei­t, solche Gegner bei einem Turnier zu besiegen.

Für Löw wird es das letzte Turnier sein. Wird die EM das Bild von ihm prägen?

VOGTS Er hat viel für den deutschen Fußball getan mit dem Wm-titel in Brasilien. Er kann immer in den Spiegel schauen und uns sagen: Ich habe etwas aus dem deutschen Fußball gemacht. Aber ich sage ganz klar: Er kann seine Zeit als Bundestrai­ner mit dem Em-sieg abschließe­n. Ich wünsche es ihm und seinen Spielern.

 ??  ??
 ?? FOTO: DPA ?? Berti Vogts feiert nach dem EM-TRIumph 1996 in England mit dem Team von 1996 und dem Pokal in den Händen auf dem Balkon des Frankfurte­r Römers.
FOTO: DPA Berti Vogts feiert nach dem EM-TRIumph 1996 in England mit dem Team von 1996 und dem Pokal in den Händen auf dem Balkon des Frankfurte­r Römers.

Newspapers in German

Newspapers from Germany