Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Nahkampf an 88 Tasten
Pianistin Martha Argerich zählt zu den großen Künstlerinnen von heute. Ihre Musikalität ist umwerfend, ihre Schüchternheit enorm. Jetzt wird sie 80 Jahre alt.
Nervenkitzel ist vermutlich ein zentrales Hormon jedes Klavierabends, und zwar auf beiden Seiten. Bricht der Held ein? Bewältigt die Diva die Gefahren? Treten im Publikum Fälle von empathischem Angstschweiß auf?
Es gibt Pianisten, die sich mit Lust, einem Puls von 54 und völlig trockenen Händen in Schlachten werfen. Für andere ist jeder solistische Auftritt ein furchtbarer Angang. Und es gibt Zuhörer, die mitleiden und am Ende dankbar durchatmen, als hätten sie selbst auf dem Podium gesessen. In dieser Gemengelage hat Martha Argerich sozusagen alles erlebt, und bis heute ist sie eine der großen Rätselhaften des Musikbetriebs geblieben. Es gab Phasen in ihrer Karriere, da sagte sie Konzerte häufiger ab, als sie welche gab – darin übertraf sie sogar den legendären italienischen Klaviermagier Arturo Benedetti Michelangeli. Und seit einiger Zeit spielt sie kaum noch solistisch. Warum ist das so?
Immer schon suchte Martha Argerich, die als letzte Sphinx des Musikbetriebs am 5. Juni 80 Jahre alt wird, den Nahkampf mit den 88 Tasten; seit sie in Bozen (1957), Genf (1957) und Warschau (1965) drei der wichtigsten Klavierwettbewerbe der Welt gewann, gilt sie als Hasardeurin auf dem Piano, als Mänade, die sogar Rachmaninows horrendes Klavierkonzert d-moll in Stücke reißen konnte, wenn sie das wollte. Spielte sie Schumanns „Traumes Wirren“, begann der Boden unter dem Flügel zu schwanken. Gab sie Bartóks „Allegro barbaro“, wollte man gleich einen Tischler fürs Instrument holen. Noch heute sind ihre manuellen Reserven grandios, auch wenn sie sich auf Podien stets nur noch mit anderen Musikern umgibt. Dann fühlt sie sich wohler.
Nein, die 1941 in Buenos Aires geborene Argerich ist keine Amazone, der man lieber nicht im Dunkeln begegnet. Wer die Künstlerin gut kennt, vor dem entsteht das Psychogramm einer widersprüchlichen Künstlerin, deren Zähne in jungen Jahren vor Auftritten „wie Kastagnetten klapperten“(wie ihr Biograf Olivier Bellamy schrieb) und die momentweise immer noch eine höllische Angst vor Auftritten hat.
Überhaupt war und ist die pianistisch vor allem von ihren Instinkten gelenkte Höllenhündin insgeheim von fast mimosenhafter Natur. Ihrem Lehrer Friedrich Gulda unterwarf sie sich 1955 wie eine Demütige. Später sagte sie, er habe sie fast alles gelehrt – so etwa, dass jedes Stück eine „Herzfrequenz“besitze und dass man bei einer klassischen Klaviersonate beim Wechsel vom ersten („männlichen“) zum zweiten („weiblichen“) Thema keinesfalls langsamer werden dürfe. Gulda erklärte ihr den Humor beim frühen Beethoven und die Kunst der Wassertropfen bei Ravel. In dieser Phase gedieh auch ihre Aversion gegen Brahms: „Seine Stücke haben den Anschein von großer Tiefe ... aber haben sie die wirklich?“
Privat ist die Argerich teils scheu, teils überschwänglich. Sehr liebt es die Nachteule, wenn sich zahllose Leute in ihrem Haus versammeln (am liebsten zu vorgerückter Stunde) und sie zwischendurch mal für zwei Stunden Beethoven üben geht („Das ist meine Dracula-seite“). Ihre Widerständigkeit gegenüber allen Regularien musste sie allerdings schon früh durchsetzen – zunächst gegen eine übermächtige Mutter, später gegen alle Männer ihres Lebens, ausnahmslos Musikerkollegen wie Stephen Kovacevich oder Charles Dutoit. Ihre Schwester Carique Argerich sagte einmal: „Es gibt zwei Dinge, die Martha auf den Tod nicht ausstehen kann: Komplimente und wenn man ihre Haare berührt.“
Einmal geriet La Martha, wie ihre Freunde sie ehrfurchtsvoll rufen, in eine gefährliche Krise und wäre beinahe Sekretärin in New York geworden, zumal ihr geplantes Zusammentreffen mit dem verehrten Pianistenvorbild Wladimir Horowitz platzte. Aber ihr besorgter Zirkel aus Freunden, allen voran der geliebte brasilianische Kollege Nelson Freire, brachte sie wieder auf die richtige Bahn. Überhaupt sind – das lehrt Argerichs Leben in jeder Sekunde – auch große Pianisten Menschen aus Fleisch und Blut, wenn sie sich jenseits des Podiums aufhalten. Argerich sitzt oft vor dem Fernseher, isst Fast Food, guckt sich Jazz-videos im Internet an und schwärmt für den französischen Romancier André Gide ebenso wie für Glenn Gould. 1992 bekam Argerich den Schock ihres Lebens – eine Hautkrebsdiagnose mit Metastasen in der Lunge. Mehrfach musste sie operiert werden, und da La Martha zeitlebens lieber gelebt als gespart hatte, mussten Freunde für die teure Operation in Los Angeles zusammenlegen.
Der Autor dieser Zeilen erlebte sie einmal bei einer Feier in ihrem Brüsseler Wohnhaus. Man saß in ihrem Wohnzimmer, trank Wein, plauderte, hörte Faxe mit Konzertanfragen rauschen und sah andere unsortiert auf dem Boden liegen. Einer in der Runde erzählte zu vorgerückter Stunde bleich, er habe in einem Hinterzimmer auf ihrem Flügel die Noten von Maurice Ravels teuflischem „Gaspard de la nuit“für Klavier solo liegen sehen. Da war La Martha längst in obere Gemächer entschwunden, unbemerkt und müde. Die Gäste durften weiterfeiern. Machten sie sich Hoffnung auf den „Gaspard“? Könnte es sein, dass Argerich dermaleinst, eines fernen oder nahen Tages, wieder das Rauschen der Meeresnymphe Ondine riskiert, das Bimmeln des Friedhofsglöckchens in „Le Gibet“, den irr spukenden Kobold in „Scarbo“? Kommt alles unverhofft wieder bei ihr, oder mag sie – darin dem von ihr sehr geschätzten Glenn Gould nicht unähnlich – nicht mehr mit sich selbst konkurrieren?
Neulich spielte sie Sergej Prokofieffs 3. Klavierkonzert in Paris, jenes Stück, das einer Fahrt im pianistischen Kettenkarussell ähnelt, bei der wie im James-bond-film „Moonraker“ein Bösewicht die Geschwindigkeit übersteuert. Wer hörte, wie Argerich den Tasten und dem Tempo einen Kick gab, der schnallte sich selbst mal besser an. Doch was sie für einen Spaß an diesem Werk hatte! Ja, Martha Argerich ist auch mit 80 immer noch ein ewiges Mädchen, schalkhaft, schüchtern, sich aufopfernd für die wichtigen Dinge im Leben. Vor allem für die Musik.