Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Als Popmusik die Welt veränderte
Die Doku-serie „1971“porträtiert das Jahr, in dem Pop politisch wurde. Einzelne Songs und Alben prägten damals die Gesellschaft.
Es ist faszinierend zu sehen, welche Rolle Popmusik einmal gespielt hat. Junge Künstler veröffentlichten Lieder für junge Leute, und darin taten sie, was man heute in den sozialen Medien macht: andere Meinungen formulieren, auf Verfehlungen hinweisen, Gemeinschaften bilden und Wut über Missstände formulieren. Popmusik war damals politischer, direkter, und sie wirkte unmittelbar. Sie übersetzte den Zeitgeist in Melodien und konnte Entwicklungen anstoßen oder verstärken und zur Meinungsbildung beitragen. Ein Lied war Leitartikel, Manifest und Aufruf, Appell, Brandbrief und Rede zur Lage der Nation.
„1971“heißt die Serie, die bei Apple TV+ läuft und in acht Teilen jenes Jahr porträtiert, in dem nach Ansicht der Macher Musik alles veränderte. Ganz bestimmt könnte man gute Gründe finden, warum genau das auch auf 1972 oder 1974 zutrifft. Aber Asif Kapadia, der mit der Winehouse-doku „Amy“zu Oscar-ehren kam, findet Belege für seine These, er kompiliert beeindruckendes Material, und warum nicht dick auftragen, um die Leute erst mal zu ködern und dann umzublasen So funktioniert Pop nun mal.?
Der Beginn der Reihe ist eine Verbeugung vor dem Album, das in der aktuellen „Rolling Stone“-liste der 500 größten Platten aller Zeiten an der Spitze steht: „What’s Going On“von Marvin Gaye. Gaye war bereits ein Star, als er es veröffentlichte, er war der große Balladensänger der Hitfabrik Motown, aber er mochte keine Liebeslieder mehr vortragen. Sein Bruder war in Vietnam, und er fragte sich, was er da macht und warum Schwarze für Weiße ihre Köpfe hinhalten sollten, nach all dem, was sie ihnen angetan hatten. Also schrieb er bittere Lieder voller Schmerz, den er in sublime und wunderschöne Melodien verpackte. Trojanische Pferde gewissermaßen, man konnte mit den Fingern schnippen, wenn man nicht auf die Texte achtete. „This ain’t livin’, this ain’t livin’“, klagte er in „Inner City Blues“, ein Stück, dessen Titel man nur aussprechen muss, um Gänsehaut zu bekommen.
Die Serie präsentiert keine Riege von redenden Köpfen. Die Stimmen von prominenten Zeitzeugen wie Chrissie Hynde, Graham Nash oder Martha Reeves kommen aus dem Off, dazu sieht man Bilder von den politischen Ereignissen, die 1971 prägten. Dabei greifen die Produzenten mitunter in die späten 60er-jahre; es geht ihnen darum, jene Linien zu verfolgen, die zu dem Boom von gesellschaftlich relevanter Popmusik führten. Das Konzert der Rolling Stones in Altamont 1969, bei dem vier Menschen starben. Das Kent-state-massaker 1970, als die Nationalgarde sich gegen demonstrierende Studenten formierte und vier Menschen starben. Neil Young widmete diesem Ereignis den Song „Ohio“.
Aretha Franklin unterstützte die Bürgerrechtlerin Angela Davis. Marvin Gaye zog dem Protestsong einen Anzug an. Die Stones entdeckten in Südfrankreich die Rohheit. The Who wurden immer wütender. Bowie überwand Geschlechtergrenzen. Und Joni Mitchell und Carole King zeigten, wovon Songs eben auch erzählen können. Es erschienen „Sticky Fingers“, „Led Zeppelin IV“, „L.A. Woman“, „Meddle“, „Tago Mago“, „Who’s Next“und das phänomenale „There’s A Riot Going On“, mit dem Sly Stone den Funk erfand, psychedelisierte und zum Jazz hin öffnete.
So wirkte Musik damals nämlich auch: als Inspiration für andere Künstler. Miles Davis etwa hatte seine Liebe für Rock und Funk entdeckt und veröffentlichte die Fusion-lp „Jack Johnson“.
Das ist das Schöne an dieser Produktion, dass sie den Zuschauer respektiert, ihn nicht überrumpelt, sondern herausfordert und seinen Teil beitragen lässt. Ganz im Sinne von Marvin Gaye, der seine berühmteste Platte mit einer Frage betitelte, auf die jeder antworten konnte. Trotzdem war das natürlich eine rhetorische Frage, und so wird auch die These dieser Serie mit jeder Folge schlüssiger. Großartig sind die Aufnahmen der in alle Welt verstreuten Ex-beatles. John Lennon zog nach New York und entwarf in „Imagine“die Vision einer idealen Welt. George Harrison veranstaltete an einem Tag zwei Konzerte für Bangladesch im Madison Square Garden und brachte „My Sweet Lord“an die Spitze der Charts. Und Paul Mccartney lebte als Farmer in Schottland und fuhr trotzdem Rolls-royce.
Die Bildercollagen, die vor dem Zuschauer ausgebreitet werden, zeigen eine Welt im Umbruch. Popmusik lieferte den Soundtrack zum Epochenwechsel. Und sie veränderte sich dadurch selbst. „I don’t wanna be a soldier, Mama, I don’t wanna die“, sang John Lennon. „War is not the answer“, pflichtete Marvin Gaye bei. Und als die Ray Conniff Singers zur Belustigung von Us-präsident Nixon auftreten sollten, rollten sie ein Transparent aus, auf dem stand: „Stop The Killing!“Doppelt unangenehm war die Situation für Nixon, weil er die Künstler mit diesen Worten angekündigt hatte: „Und wenn die Musik ein bisschen konservativ ist, dann weil ich das so mag.“
„1971“ist Kultur-anthropologie, Fundgrube und lebendiges Museum. Popmusik vereinte Musik und Hörer im Widerspruch. „The change, it had to come / We knew it all along“, hieß es bei The Who. Und: „We don’t get fooled again.“