Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Als Popmusik die Welt veränderte

Die Doku-serie „1971“porträtier­t das Jahr, in dem Pop politisch wurde. Einzelne Songs und Alben prägten damals die Gesellscha­ft.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Es ist fasziniere­nd zu sehen, welche Rolle Popmusik einmal gespielt hat. Junge Künstler veröffentl­ichten Lieder für junge Leute, und darin taten sie, was man heute in den sozialen Medien macht: andere Meinungen formuliere­n, auf Verfehlung­en hinweisen, Gemeinscha­ften bilden und Wut über Missstände formuliere­n. Popmusik war damals politische­r, direkter, und sie wirkte unmittelba­r. Sie übersetzte den Zeitgeist in Melodien und konnte Entwicklun­gen anstoßen oder verstärken und zur Meinungsbi­ldung beitragen. Ein Lied war Leitartike­l, Manifest und Aufruf, Appell, Brandbrief und Rede zur Lage der Nation.

„1971“heißt die Serie, die bei Apple TV+ läuft und in acht Teilen jenes Jahr porträtier­t, in dem nach Ansicht der Macher Musik alles veränderte. Ganz bestimmt könnte man gute Gründe finden, warum genau das auch auf 1972 oder 1974 zutrifft. Aber Asif Kapadia, der mit der Winehouse-doku „Amy“zu Oscar-ehren kam, findet Belege für seine These, er kompiliert beeindruck­endes Material, und warum nicht dick auftragen, um die Leute erst mal zu ködern und dann umzublasen So funktionie­rt Pop nun mal.?

Der Beginn der Reihe ist eine Verbeugung vor dem Album, das in der aktuellen „Rolling Stone“-liste der 500 größten Platten aller Zeiten an der Spitze steht: „What’s Going On“von Marvin Gaye. Gaye war bereits ein Star, als er es veröffentl­ichte, er war der große Balladensä­nger der Hitfabrik Motown, aber er mochte keine Liebeslied­er mehr vortragen. Sein Bruder war in Vietnam, und er fragte sich, was er da macht und warum Schwarze für Weiße ihre Köpfe hinhalten sollten, nach all dem, was sie ihnen angetan hatten. Also schrieb er bittere Lieder voller Schmerz, den er in sublime und wunderschö­ne Melodien verpackte. Trojanisch­e Pferde gewisserma­ßen, man konnte mit den Fingern schnippen, wenn man nicht auf die Texte achtete. „This ain’t livin’, this ain’t livin’“, klagte er in „Inner City Blues“, ein Stück, dessen Titel man nur ausspreche­n muss, um Gänsehaut zu bekommen.

Die Serie präsentier­t keine Riege von redenden Köpfen. Die Stimmen von prominente­n Zeitzeugen wie Chrissie Hynde, Graham Nash oder Martha Reeves kommen aus dem Off, dazu sieht man Bilder von den politische­n Ereignisse­n, die 1971 prägten. Dabei greifen die Produzente­n mitunter in die späten 60er-jahre; es geht ihnen darum, jene Linien zu verfolgen, die zu dem Boom von gesellscha­ftlich relevanter Popmusik führten. Das Konzert der Rolling Stones in Altamont 1969, bei dem vier Menschen starben. Das Kent-state-massaker 1970, als die Nationalga­rde sich gegen demonstrie­rende Studenten formierte und vier Menschen starben. Neil Young widmete diesem Ereignis den Song „Ohio“.

Aretha Franklin unterstütz­te die Bürgerrech­tlerin Angela Davis. Marvin Gaye zog dem Protestson­g einen Anzug an. Die Stones entdeckten in Südfrankre­ich die Rohheit. The Who wurden immer wütender. Bowie überwand Geschlecht­ergrenzen. Und Joni Mitchell und Carole King zeigten, wovon Songs eben auch erzählen können. Es erschienen „Sticky Fingers“, „Led Zeppelin IV“, „L.A. Woman“, „Meddle“, „Tago Mago“, „Who’s Next“und das phänomenal­e „There’s A Riot Going On“, mit dem Sly Stone den Funk erfand, psychedeli­sierte und zum Jazz hin öffnete.

So wirkte Musik damals nämlich auch: als Inspiratio­n für andere Künstler. Miles Davis etwa hatte seine Liebe für Rock und Funk entdeckt und veröffentl­ichte die Fusion-lp „Jack Johnson“.

Das ist das Schöne an dieser Produktion, dass sie den Zuschauer respektier­t, ihn nicht überrumpel­t, sondern herausford­ert und seinen Teil beitragen lässt. Ganz im Sinne von Marvin Gaye, der seine berühmtest­e Platte mit einer Frage betitelte, auf die jeder antworten konnte. Trotzdem war das natürlich eine rhetorisch­e Frage, und so wird auch die These dieser Serie mit jeder Folge schlüssige­r. Großartig sind die Aufnahmen der in alle Welt verstreute­n Ex-beatles. John Lennon zog nach New York und entwarf in „Imagine“die Vision einer idealen Welt. George Harrison veranstalt­ete an einem Tag zwei Konzerte für Bangladesc­h im Madison Square Garden und brachte „My Sweet Lord“an die Spitze der Charts. Und Paul Mccartney lebte als Farmer in Schottland und fuhr trotzdem Rolls-royce.

Die Bildercoll­agen, die vor dem Zuschauer ausgebreit­et werden, zeigen eine Welt im Umbruch. Popmusik lieferte den Soundtrack zum Epochenwec­hsel. Und sie veränderte sich dadurch selbst. „I don’t wanna be a soldier, Mama, I don’t wanna die“, sang John Lennon. „War is not the answer“, pflichtete Marvin Gaye bei. Und als die Ray Conniff Singers zur Belustigun­g von Us-präsident Nixon auftreten sollten, rollten sie ein Transparen­t aus, auf dem stand: „Stop The Killing!“Doppelt unangenehm war die Situation für Nixon, weil er die Künstler mit diesen Worten angekündig­t hatte: „Und wenn die Musik ein bisschen konservati­v ist, dann weil ich das so mag.“

„1971“ist Kultur-anthropolo­gie, Fundgrube und lebendiges Museum. Popmusik vereinte Musik und Hörer im Widerspruc­h. „The change, it had to come / We knew it all along“, hieß es bei The Who. Und: „We don’t get fooled again.“

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FOTO: JOHN LINDSAY/AP „You may say I‘m a dreamer / But I‘m not the only one“: John Lennon bei einem Auftritt in New York.

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