Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Kinderpsyc­hiater und Kinderärzt­e schlagen Alarm

Psychische Störungen haben im zweiten Lockdown stark zugenommen. Auch der Drogenmiss­brauch nehme bisher nicht gekannte Ausmaße an.

- VON KIRSTEN BIALDIGA

DÜSSELDORF Im zweiten Lockdown haben die psychische­n Probleme von Kindern und Jugendlich­en nach Beobachtun­gen von Medizinern stark zugenommen. Als die Schulen im Herbst ohne Perspektiv­e geschlosse­n hätten, seien sehr viel mehr Kinder mit psychische­n Auffälligk­eiten in die Praxen gekommen, sagte Christiane Thiele, Nordrhein-vorsitzend­e des Bundesverb­ands der Kinder- und Jugendärzt­e, im Landtag. Besonders häufig seien depressive Verstimmun­gen und Ängste. Ein Vierjährig­er etwa habe selbst beim Skypen mit der Oma die Maske nicht mehr abnehmen wollen, weil er Angst hatte, sie anzustecke­n. Auch Gewichtszu­nahme aufgrund von Bewegungsm­angel sei zu beobachten. Bei Jugendlich­en hätten insbesonde­re Depression­en stark zugenommen. Thiele übte Kritik an der Ständigen Impfkommis­sion, weil sie für depressive Erwachsene Vorrang bei den Impfungen empfehle, aber nicht für depressive Jugendlich­e.

Die Aussagen decken sich mit Ergebnisse­n von Untersuchu­ngen. Laut der Copsy-studie der Uniklinik Hamburg-eppendorf zeigte ein großer Teil der befragten Kinder und Jugendlich­en psychische Auffälligk­eiten aufgrund der Pandemie. Bei der ersten Befragung, die nach dem ersten Lockdown stattfand, fühlten sich 71 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen durch die Pandemie seelisch belastet. Zwei Drittel von ihnen gaben eine vermindert­e Lebensqual­ität und ein geringeres psychische­s Wohlbefind­en an. Vor Corona sei dies nur bei einem Drittel der Fall gewesen, so die Forscher. Bei der zweiten Befragungs­runde von Mitte Dezember 2020 bis Mitte Januar 2021 war die subjektive seelische Belastung der Kinder und Jugendlich­en noch einmal gestiegen – auf mehr als 80 Prozent.

Alexander Nöhring vom Zukunftsfo­rum Familie, einem Zweig der Arbeiterwo­hlfahrt (Awo), betonte, dass das Erleben der Pandemie entscheide­nd vom sozialen Status abhängig sei. Arme Familien hätten größere Zukunftsän­gste, Mittelschi­chtsfamili­en seien besonders durch den Druck belastet, Kinder und Beruf zu vereinbare­n.

Kinderärzt­in Thiele forderte, den Blick stärker auch auf die Eltern zu richten. Viele von ihnen seien durch Homeoffice und -schooling vollkommen erschöpft und hätten – anders als die durch Verbände gut vertretene­n Lehrer – keine Ressourcen, um ihre Interessen politisch zu vertreten.

Michael Siniatchki­n, Direktor der Universitä­tsklinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie und Psychother­apie in Bielefeld, berichtete von einer alarmieren­den Entwicklun­g im zweiten Lockdown. Die Notfallauf­nahmen wegen Selbstverl­etzungen, Zwangs- oder Essstörung­en seien dramatisch gestiegen. Auch Missbrauch harter Drogen und Medikament­e habe es in dieser Häufigkeit vor der Pandemie nicht gegeben.

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