Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Industrie hat keinen Favoriten

Wem traut die Wirtschaft am ehesten zu, das Land klimaneutr­al zu gestalten, ohne den Industries­tandort zu opfern? Armin Laschet, Annalena Baerbock und Olaf Scholz kämpfen beim Tag der Industrie um das Vertrauen der Manager.

- VON BIRGIT MARSCHALL

BERLIN Martin Brudermüll­er, Chef des Chemiekonz­erns BASF, hat neben Armin Laschet Platz genommen, die beiden beäugen sich freundlich. Doch dann sagt der Topmanager einige Sätze, die der Cdu-vorsitzend­e und Kanzlerkan­didat wohl nicht erwartet hat. „Ihr Bekenntnis zum klimaneutr­alen Industriel­and ist ja klasse“, sagt Brudermüll­er, „aber jetzt müssen wir gucken, dass es kein Lippenbeke­nntnis bleibt.“Es brauche auf dem Weg dorthin eine „Entrümpelu­ng“der Regeln, keinen „Gestaltung­swahn“des Staates. Laschet schürzt für einen Moment die Lippen: Er fühlt sich zu Unrecht ermahnt. Schließlic­h ist es gerade die Union, die der Wirtschaft in ihrem noch druckfrisc­hen Wahlprogra­mm „Entfesselu­ngspakete“durch Bürokratie­abbau verspricht.

Die kleine Episode auf dem diesjährig­en Tag der Industrie, die als Hybridvera­nstaltung halb mit der Anwesenhei­t von rund 100 Zuschauern, halb digital stattfinde­t, macht deutlich, dass es für Laschet und die Union in diesem Wahlkampf anders als in früheren Jahren kein Selbstläuf­er ist, die Vertreter der Wirtschaft hinter sich zu bringen. Der Bundesverb­and der deutschen Industrie (BDI) hat neben Laschet die anderen Kanzlerkan­didaten eingeladen. Auch Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) ernten mal Applaus, mal freundlich vorgetrage­ne Kritik. Wem die Wirtschaft am ehesten zutraut, die ungeheure Herausford­erung der Transforma­tion der Wirtschaft hin zur Klimaneutr­alität politisch zu organisier­en, das bleibt an diesem Tag eine offene Frage.

Die wärmsten Worte findet Bdi-präsident Siegfried Russwurm noch für die scheidende Kanzlerin. „Pragmatism­us zeichnet Sie aus, Eitelkeit ist Ihnen fremd“, sagt Rußwurm an die Adresse der per Video zugeschalt­eten Angela Merkel, die sich auch jetzt wieder nur ein bescheiden­es Lächeln gönnt. Mit Mut, Standhafti­gkeit und Menschlich­keit habe Merkel „in vielerlei Hinsicht Maßstäbe gesetzt“. Auch hier wird klar: Laschet wird von der Industrie nicht einfach als der geborene Nachfolger Merkels akzeptiert. Die Erwartunge­n an ihn, der die Bundestags­wahl am ehesten gewinnen kann, sind riesengroß, die Zweifel, ob er ein würdiger Nachfolger Merkels sein kann, aber auch.

Dabei tritt der Cdu-vorsitzend­e und Kanzlerkan­ditat, der nach Informatio­nen unserer Redaktion diesen Donnerstag erstmals seit 23 Jahren wieder im Bundestag sprechen soll, vor der Industrie auf wie ihr Musterschü­ler: Sein Wahlprogra­mm und auch seine Rede sind gespickt mit gängigen Vokabeln der Wirtschaft­spolitik, die viele hier gerne hören. So verspricht er ein „Modernisie­rungsjahrz­ehnt“, das Gleiche wünschte sich der Bdi-präsident in seiner Eröffnungs­rede. Laschet will entbürokra­tisieren, die Industrie wünscht sich genau das, Laschet will keine Steuern erhöhen, Applaus im Saal. Trotzdem spricht ihn die Moderatori­n in der anschließe­nden Diskussion auf die häufig geäußerte Kritik an, das Unionsprog­ramm sei zu vage. Laschet wehrt sich: „Ich find’s ambitionie­rt, reizvoll, voller Ideen...“Viele hätten die knapp 140 Seiten Programm noch gar nicht gelesen, da sei ihr Urteil schon gefallen.

Es folgt der Kümmerer. SPD-KANZlerkan­didat Olaf Scholz gibt sich wie stets die Aura des Könners – der allerdings amtierende­r Vizekanzle­r und Bundesfina­nzminister ist. Wenn in den vergangene­n vier Jahren etwas versäumt worden ist, so seine Botschaft, dann liege das nicht an ihm, sondern am Koalitions­partner und seinem begrenzten Einfluss.

Deshalb will Scholz jetzt Bundeskanz­ler werden. Er wirft CDU-WIRTschaft­sminister Peter Altmaier eine „Stromlüge“vor, denn dieser nehme weiterhin an, der Strombedar­f werde bis 2030 nicht steigen. Das sei aber nicht nur wegen des E-MObilitäts­ausbaus völlig unrealisti­sch. Spielraum für Steuerentl­astungen sieht Scholz nicht, aber er will den Industries­trompreis auf vier Cent pro Kilowattst­unde senken – eine Ankündigun­g, die die Industriev­ertreter begrüßen, wenngleich auch hier Skepsis im Saal zu spüren ist.

Als „Stammgast“begrüßt der Industriep­räsident schließlic­h Annalena Baerbock, die in der Angriffsfa­rbe Rot erschienen ist. Die Grünen-chefin war schon ein paarmal beim Tag der Industrie, Topmanager sprechen anerkennen­d von der 40-Jährigen, im Mittelstan­d sind viele skeptisch. Baerbock selbst ist die Verkörperu­ng ihrer zentralen Botschaft an diesem Tag: Nicht reden, sondern machen, lautet ihr Credo, die Zeit des Herumwurst­elns müsse vorbei sein. Es brauche „politische­s Leadership“, um das Land schnell klimaneutr­al zu machen. Der Industrie biete sie einen „Pakt“an: Politik und Wirtschaft müssten sich unterhaken, damit auch die Kinder in 20 oder 40 Jahren noch in Freiheit leben könnten.

In der folgenden Runde mit Industriev­ertretern muss sich die Grünen-kandidatin dann aber vorhalten lassen, den viel zu knappen Wasserstof­f staatlich verteilen zu wollen, etwa an die Stahlindus­trie. Das könne der Markt besser, sagt die Vertreteri­n der Autoindust­rie, Hildegard Müller. Überhaupt scheine das, was Baerbock hier erzähle, mit dem, was ihre Partei mitunter wolle, nicht immer zusammenzu­passen. Die Kanzlerkan­didatin kontert mit dem Hinweis darauf, dass es bei der anstehende­n Wahl gar nicht um „grüne Politik“oder die Grünen gehen werde, sondern „um die „Zukunftsfä­higkeit unseres Industries­tandorts“. Denn am Klimaschut­z führe einfach kein Weg vorbei.

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FOTO: JUTRCZENKA/DPA Grünen-kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock besuchte den Tag der Industrie schon mehrere Male und wurde daher als „Stammgast“begrüßt.

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