Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Kostspielige Unabhängigkeit
Vor fünf Jahren stimmten die Briten für den Austritt aus der EU. Noch überdeckt Corona viele wirtschaftliche Konsequenzen.
LONDON An diesem Mittwoch vor fünf Jahren trafen die Briten eine historische Entscheidung. Im Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union stimmten 52 Prozent, immerhin fast 17,5 Millionen Wähler, für den Austritt aus der EU. Es war ein Donnerschlag. Weder das politische und wirtschaftliche Establishment auf der Insel noch die Beobachter auf dem Kontinent hatten es auf dem Schirm gehabt, dass sich das Land wirklich von seinem wichtigsten Handelspartner trennen wollte. Nach dem Schock folgten quälende Jahre eines schwierigen Ablösungsprozesses. Und nachdem das Königreich endgültig den Binnenmarkt verlassen hat, stellt sich die Frage: Wo ist die Brexit-dividende?
Zurzeit lenkt noch die CoronaPandemie von den negativen wirtschaftlichen Konsequenzen des Austritts ab. Doch Handelshemmnisse werden täglich deutlicher. Obwohl Großbritannien und die EU sich nach langem Ringen auf einen Handelspakt einigen konnten, läuft es alles andere als rund. Der zuvor reibungslose Güterverkehr im Binnenmarkt wurde ersetzt durch ein neues Regime des Warenhandels, in dem es zwar keine Tarife gibt, also Zölle und Mengenbeschränkungen, aber sehr wohl „nichttarifäre Handelshemmnisse“. Damit sind all jene Vorschriften gemeint, die es Exporteuren erlauben, Güter in die EU einzuführen. Britische Unternehmen, die zuvor noch problem- und aufwandslos ihre Waren auf den Kontinent verschiffen konnten, müssen nun eine geradezu labyrinthisch anmutende Bürokratie beachten. Ausfuhrerklärungen, Herkunftsnachweise, Atteste, Sicherheitsdeklarationen, Warencodes, Lieferantenstatements, Gesundheitszeugnisse sind nur einige der Formulare, die es vorzulegen gilt. All das macht den bilateralen Handel komplizierter und verursacht Mehrkosten.
Schon bevor die neuen Schranken runtergingen, hatte der Brexit der Volkswirtschaft geschadet. Kurz nach dem Referendum stieg die Zahl fremdenfeindlicher Übergriffe, die Einwanderung von Eu-arbeitern ging drastisch zurück und eine Abwanderung begann. In einigen Branchen kam es sogar zu einem regelrechten Brexodus: Gastgewerbe und Landwirtschaft, Pflegesektor und Spediteure klagen jetzt laut über einen Personalmangel, der durch die Corona-pandemie noch verschärft wurde.
Da es nach dem Referendum lange unklar war, welchen Härtegrad von Brexit die Regierung ansteuern würde, hielten sich britische Unternehmen mit Investitionen zurück. Der Verlust von milliardenschweren Finanzspritzen bedeutete verlorenes Wachstum, verlorene Arbeitsplätze und verlorene Steuereinnahmen. Und auch ausländische Direktinvestitionen in die britische Wirtschaft verringerten sich dramatisch: Waren es im Jahr 2016 noch 192 Milliarden Pfund, die ausländische Anleger investierten, so schmolz die Summe im Jahr 2019 auf 35,6 Milliarden Pfund.
Die britische Volkswirtschaft hat seit 2016 bis zum Anfang dieses Jahres nach Schätzungen zwei bis drei Prozent Wachstum verloren. Und eine offizielle Prognose des Schatzamts geht davon aus, dass die Wirtschaft in den nächsten 15 Jahren um sechs Prozent kleiner sein wird, als sie sein würde, wenn der Austritt aus dem Binnenmarkt nicht erfolgt wäre.
Keine gute Bilanz. Doch die durch den Brexit verursachten ökonomischen Hiobsbotschaften werden derzeit völlig überlagert durch die Verwüstungen, die der Corona-pandemie geschuldet sind. Im vergangenen Jahr brach das britische Bruttoinlandsprodukt um 9,8 Prozent ein, das Land verzeichnete die schlimmste Rezession seit 300 Jahren. Covid hatte der Regierung, befand die Wirtschaftsjournalistin Jon
ty Bloom, „die ideale Camouflage“geliefert. Jetzt wird der durch die allmähliche Lockerung ausgelöste Konsum-boom von der Pro-brexitPresse sogar als Beleg für die Vorteile des Eu-austritts interpretiert.
Andererseits hat die Brexit-fans auf der Insel das ökonomische Argument stets wenig gekümmert. Ihnen ging es dagegen um die nationale Souveränität und darum, dass man sich nicht mehr von „Johnny Foreigner“in der Gestalt der Brüsseler Kommission herumkommandieren lassen wollte. Sie verweisen jetzt auf den Erfolg der Impfkampagne als Beweis für den Brexit-bonus: Wäre man immer noch im europäischen Verein, lautet das Argument, wäre man nicht so schnell und so effizient mit der Immunisierung der Bevölkerung vorangekommen. Und da haben sie recht. Der britische Alleingang war nur möglich, weil man sich nicht mehr der Solidarität innerhalb der EU verpflichtet fühlte.
Und tatsächlich konnte man schneller entscheiden, gezielter investieren und koordinierter planen und umsetzen, als es die Europäische Kommission vermochte. Selbst unter entschiedenen „Remainern“, die leidenschaftlich für den Verbleib in der EU stritten, verbreitet sich, sobald man geimpft ist, die Ansicht, dass der Brexit durchaus auch seinen Vorteil hat.