Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Hohe Hürden für die Ortskräfte

ANALYSE Helfer am Hindukusch fürchten nach dem Abzug der Soldaten um ihr Leben, sollen aber auf eigene Faust und Kosten nach Deutschlan­d kommen.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Es schienen noch Jahre Zeit zu bleiben, um sich rechtzeiti­g um diejenigen zu sorgen, die deutschen Soldaten, Polizisten, Diplomaten und Entwicklun­gshelfern in Afghanista­n zur Seite standen, für sie übersetzte­n, kochten, einkauften oder Wache schoben. Ortskräfte, also afghanisch­e Helfer, waren für die deutschen Missionen am Hindukusch unverzicht­bar. Der plötzliche und schnelle Rückzug macht ihre Lage prekär. Denn viele fürchten die Rache der Taliban. Die deutsche Reaktion darauf kommt bislang theoretisc­h großherzig, praktisch aber gefühlskal­t daher.

Dabei war die Freude groß, als sich Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) in der vergangene­n Woche in internen Verhandlun­gen mit den Kollegen aus dem Außen-, Verteidigu­ngs- und Entwicklun­gsressort bewegt hatte. Galt bis Mittwoch die Annahme, dass nur der gefährdet sein könne, der bei den Deutschen in den vergangene­n zwei Jahren beschäftig­t war, räumte Seehofer die Position: Nun kann auch jede ehemalige Ortskraft eine Gefährdung­sanzeige abgeben, die seit 2013 einen Vertrag mit den Deutschen hatte. Das Datum markiert den Wechsel der Missionen und die Verfügbark­eit von Unterlagen.

Die Zweijahres­frist sei weg, verkündete Seehofer bei der Konferenz der Innenminis­ter am Freitag in Rust. „Das ist eine richtig gute Entscheidu­ng“, betont SPD-VERteidigu­ngsexperti­n Siemtje Möller. Alle abgelehnte­n Fälle seit 2013 würden nun noch einmal geprüft.

Die Ortskräfte hätten einen „wertvollen Beitrag zur Aufgabener­füllung“geleistet, sie hätten „große Risiken“auf sich genommen und ihre eigene Sicherheit gefährdet. „Es ist wichtig, dass die Bundesrepu­blik ihnen Schutz bietet und etwas zurück gibt“, unterstrei­cht Möller.

Der Schutz besteht darin, dass das Auswärtige Amt vor Ort mit Unterstütz­ung der Bundeswehr ein wertvolles Stück Papier aushändigt: ein Visum für sie und für ihre Kernfamili­e. In den vergangene­n Jahren betraf das bereits rund 800 ehemalige Ortskräfte und 2600 Angehörige. Bis zur Vorwoche gingen die Behörden von 525 weiteren Ortskräfte­n aus. Fünf hatten dem Innenminis­terium geholfen, 13 dem Auswärtige­n Amt, 25 dem Entwicklun­gsminister­ium und das Gros von 475 dem Verteidigu­ngsministe­rium. Nach der Ausweitung auf alle ab 2013 wird mit mehr als 350 weiteren und 1200 Angehörige­n gerechnet.

Um den Abzug so gründlich und so geschützt wie möglich zu organisier­en, flog die Bundeswehr eigens zusätzlich­e Kräfte ein – und inzwischen wieder aus. Militärisc­he Ausrüstung im Umfang von 600 Containern verfrachte­ten die deutschen Soldaten. Eine komplette Kapelle wurde auseinande­rgenommen und nach Deutschlan­d geflogen – und der 27 Tonnen schwere Gedenkstei­n aus Masar-i-scharif, der inzwischen im Ehrenhain des Einsatzfüh­rungskomma­ndos angekommen ist.

Das bringt nicht nur Hauptmann Marcus Grotian auf eine Idee. „Wenn wir Platz für einen 27-Tonnen-stein haben, werden wir wohl auch unsere Ortskräfte transporti­eren können“, sagt der Vorsitzend­e des Patenschaf­tsnetzwerk­s Ortskräfte Afghanista­n, das sich mit vielen Helfern um die Einglieder­ung ehemaliger Ortskräfte in Deutschlan­d kümmert. Er weiß von Kameraden, dass die Taliban bereits vor den Toren des ehemaligen deutschen Lagers stünden. „Wir müssen unsere Ortskräfte und ihre Familien so schnell wie möglich in Sicherheit bringen“, verlangt Grotian.

Tatsächlic­h aber gibt es von den Deutschen nur das Visum. Um ihr Ticket und einen Flug müssen sich die Ortskräfte und ihre Familien selbst kümmern. Schon die Kosten für den Flug sind immens und entspreche­n oft einem ganzen Jahreseink­ommen. Und dann sind da noch die die Flugverbin­dungen. Von Masar-i-scharif gibt es keine Direktverb­indungen. Und der Flughafen in Kabul könnte auch unsicher werden, wenn die türkischen Streitkräf­te abziehen. So drängt denn die Zeit: Bis Juli will die Bundeswehr mit dem Abzug fertig sein.

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FOTO: DPA Ein Soldat und ein Dolmetsche­r (r.) im Gespräch in Afghanista­n.

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