Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Hohe Hürden für die Ortskräfte
ANALYSE Helfer am Hindukusch fürchten nach dem Abzug der Soldaten um ihr Leben, sollen aber auf eigene Faust und Kosten nach Deutschland kommen.
BERLIN Es schienen noch Jahre Zeit zu bleiben, um sich rechtzeitig um diejenigen zu sorgen, die deutschen Soldaten, Polizisten, Diplomaten und Entwicklungshelfern in Afghanistan zur Seite standen, für sie übersetzten, kochten, einkauften oder Wache schoben. Ortskräfte, also afghanische Helfer, waren für die deutschen Missionen am Hindukusch unverzichtbar. Der plötzliche und schnelle Rückzug macht ihre Lage prekär. Denn viele fürchten die Rache der Taliban. Die deutsche Reaktion darauf kommt bislang theoretisch großherzig, praktisch aber gefühlskalt daher.
Dabei war die Freude groß, als sich Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in der vergangenen Woche in internen Verhandlungen mit den Kollegen aus dem Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungsressort bewegt hatte. Galt bis Mittwoch die Annahme, dass nur der gefährdet sein könne, der bei den Deutschen in den vergangenen zwei Jahren beschäftigt war, räumte Seehofer die Position: Nun kann auch jede ehemalige Ortskraft eine Gefährdungsanzeige abgeben, die seit 2013 einen Vertrag mit den Deutschen hatte. Das Datum markiert den Wechsel der Missionen und die Verfügbarkeit von Unterlagen.
Die Zweijahresfrist sei weg, verkündete Seehofer bei der Konferenz der Innenminister am Freitag in Rust. „Das ist eine richtig gute Entscheidung“, betont SPD-VERteidigungsexpertin Siemtje Möller. Alle abgelehnten Fälle seit 2013 würden nun noch einmal geprüft.
Die Ortskräfte hätten einen „wertvollen Beitrag zur Aufgabenerfüllung“geleistet, sie hätten „große Risiken“auf sich genommen und ihre eigene Sicherheit gefährdet. „Es ist wichtig, dass die Bundesrepublik ihnen Schutz bietet und etwas zurück gibt“, unterstreicht Möller.
Der Schutz besteht darin, dass das Auswärtige Amt vor Ort mit Unterstützung der Bundeswehr ein wertvolles Stück Papier aushändigt: ein Visum für sie und für ihre Kernfamilie. In den vergangenen Jahren betraf das bereits rund 800 ehemalige Ortskräfte und 2600 Angehörige. Bis zur Vorwoche gingen die Behörden von 525 weiteren Ortskräften aus. Fünf hatten dem Innenministerium geholfen, 13 dem Auswärtigen Amt, 25 dem Entwicklungsministerium und das Gros von 475 dem Verteidigungsministerium. Nach der Ausweitung auf alle ab 2013 wird mit mehr als 350 weiteren und 1200 Angehörigen gerechnet.
Um den Abzug so gründlich und so geschützt wie möglich zu organisieren, flog die Bundeswehr eigens zusätzliche Kräfte ein – und inzwischen wieder aus. Militärische Ausrüstung im Umfang von 600 Containern verfrachteten die deutschen Soldaten. Eine komplette Kapelle wurde auseinandergenommen und nach Deutschland geflogen – und der 27 Tonnen schwere Gedenkstein aus Masar-i-scharif, der inzwischen im Ehrenhain des Einsatzführungskommandos angekommen ist.
Das bringt nicht nur Hauptmann Marcus Grotian auf eine Idee. „Wenn wir Platz für einen 27-Tonnen-stein haben, werden wir wohl auch unsere Ortskräfte transportieren können“, sagt der Vorsitzende des Patenschaftsnetzwerks Ortskräfte Afghanistan, das sich mit vielen Helfern um die Eingliederung ehemaliger Ortskräfte in Deutschland kümmert. Er weiß von Kameraden, dass die Taliban bereits vor den Toren des ehemaligen deutschen Lagers stünden. „Wir müssen unsere Ortskräfte und ihre Familien so schnell wie möglich in Sicherheit bringen“, verlangt Grotian.
Tatsächlich aber gibt es von den Deutschen nur das Visum. Um ihr Ticket und einen Flug müssen sich die Ortskräfte und ihre Familien selbst kümmern. Schon die Kosten für den Flug sind immens und entsprechen oft einem ganzen Jahreseinkommen. Und dann sind da noch die die Flugverbindungen. Von Masar-i-scharif gibt es keine Direktverbindungen. Und der Flughafen in Kabul könnte auch unsicher werden, wenn die türkischen Streitkräfte abziehen. So drängt denn die Zeit: Bis Juli will die Bundeswehr mit dem Abzug fertig sein.