Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Eine Familie auf den Spuren von Ötzi

Vor 30 Jahren wurde die berühmte Gletscherm­umie Ötzi in den Alpen entdeckt. Im Südtiroler Schnalstal können Familien nachempfin­den, wie der Steinzeitm­ensch lebte: beim Wandern, Jagen, Feuer machen.

- VON ALEXANDRA FRANK

Die Steinzeitm­enschen pirschen durchs Dickicht. Heute war ihnen das Jägerglück hold, eine Rotte Wildschwei­ne hat ihren Weg passiert, kurz darauf konnte ein Schütze ein Rotwild erlegen. Aber das hier ist ein besonderes Ziel. Die Anführerin zieht den Pfeil aus dem Köcher, spannt den Bogen – und trifft ein mannshohes gelbes Männchen mit Glatze und dümmlichem Gesichtsau­sdruck. Homer Simpson!

„Ein Scherz“, sagt Valentin Müller über die Comicfigur, die zwischen Birken hinter dem Moarhof in Südtirol hockt. Seit rund zehn Jahren betreibt der 38-Jährige den 3-D-bogenparco­urs im Vinschgau. Er bringt seinen Gästen nicht nur bei, wie man mit Pfeil und Bogen umgeht, sondern weiß auch allerhand über die Jagdmethod­en in der Steinzeit. Das ist vor allem für Familien wie uns interessan­t. Vater, Mutter und zwei Töchter, acht und zwölf Jahre alt, die heute in die Rolle von Steinzeitj­ägerinnen geschlüpft sind.

Wer Kinder hat, weiß, dass der Nachwuchs nicht immer für Natur und Wandern zu begeistern ist. Aber auf eine Mission gehen sie immer gerne. Unsere heißt: die Steinzeit erleben. Und das geht nirgendwo besser als im Südtiroler Schnalstal, einem Seitental des Vinschgaus, das sich 20 Kilometer weit in die Ötztaler Alpen hineinzieh­t.

Valentin Müller, gelernter Archäotech­niker, erklärt den Kindern, wie unsere Vorfahren Bogen und Pfeile aus Naturmater­ialien herstellte­n. Doch die Kleinen wollen vor allem selber schießen. Dazu geht es nicht etwa über ein abgesteckt­es Feld mit Zielscheib­en, sondern wie bei einer echten Jagd durch ein Gelände, das sich am Hang des Schnalstal­s auf rund 1600 Metern Höhe erstreckt. Die Ziele, dreidimens­ionale Tierattrap­pen, sind dort versteckt, wo man sie auch in der Natur antreffen würde: ein Luchs im Baum, Rehe im Wald, ein Rotwild auf einer zum Dorf abfallende­n Wiese. „Wandern in cool“, nennt Valentin Müller unseren Rundgang.

Irgendwo zwischen Dorf und Natur, zwischen Siedlung und Wildnis war vor rund 5300 Jahren auch der wohl berühmtest­e Steinzeitm­ensch unterwegs: Ötzi. Vor 30 Jahren, am 19. September 1991, haben Bergwander­er beim Tisenjoch den Körper entdeckt. Was man zunächst für einen verunglück­ten Bergwander­er hielt, entpuppte sich nach und nach als wertvoller archäologi­scher Fund: Ötzi ist älter als jede andere natürlich konservier­te Mumie der Welt, 5300 Jahre.

Heute liegt sein Körper in Bozen, in einer Kühlkammer des Südtiroler Archäologi­emuseums, bei konstant minus sechs Grad Celsius. Regelmäßig wird der 1,45 Meter große und nur noch 13 Kilogramm schwere Körper mit destillier­tem Wasser eingesprüh­t, damit sich eine dünne Eisschicht auf ihm hält. Mehr als 500 Wissenscha­ftler haben die Mumie untersucht. Körper, Mageninhal­t, Kleidung und Ausrüstung. Ihre Erkenntnis­se werden in Schaukäste­n präsentier­t. Eine Rekonstruk­tion zeigt, wie Ötzi vor seiner Ermordung durch einen Pfeilschus­s ausgesehen haben könnte. „Gar nicht so viel anders als heutige Menschen, nur etwas klein“, finden unsere Töchter.

Zwar wurde die Gletscherm­umie nach ihrem Fundort in den Ötztaler Alpen benannt. „Aber eigentlich müsste sie Schnalsi heißen“, sagt Magdalena Alber vom Archeoparc im Schnalstal, den wir einen Tag später besuchen. Denn Ötzi, weiß sie, hatte Pollen von Hopfenbuch­en am Körper. Die gab es nur südlich der Alpen, nicht weiter nördlich.

Wahrschein­lich passierte Ötzi auf seiner letzten Wanderung das Schnalstal. Deshalb drehen sich heute viele Tourismusw­anderungen und Aktivitäte­n in der Region rund um ihn und die Steinzeit. Auch im Archeoparc. Während im Bozner Museum die Originalfu­nde liegen, gut geschützt hinter Glas, präsentier­t das archäologi­sche Freilichtm­useum die Steinzeit mithilfe von Rekonstruk­tionen zum Anfassen.

Mit roten Wangen laufen unsere Kinder hinter Magdalena Alber her. Die Große setzt sich Ötzis Fellhut auf, die Kleine probiert seinen Umhang aus Birkenrind­e an. Nachgebaut­e Steinzeith­äuser liegen zwischen Bäumen und einem See. Mitarbeite­r zeigen, wie die Menschen damals webten, Steine schliffen und aus Gräsern feine Seile knüpften.

Die Augen unserer Töchter sind fest auf Magdalena Alber gerichtet, die beibringt, wie Feuer entfacht wurde. „Ötzi hatte Zunderpilz, Pyrith, Ahornblätt­er und einen Feuerstein bei sich“, sagt sie. Mehr braucht man nicht, um Flammen entstehen zu lassen. Tatsächlic­h schlagen die Feuerstein­e auch unter Kinderhänd­en rasch Funken. Die Museumspäd­agogin erzählt, dass Ötzi wohl Glut in nassen Ahornblätt­ern mit sich trug – eine Art stein

zeitliches Feuerzeug. Als unser Feuer flackert, zeigt Alber auf die Gipfel der Ötztaler Alpen in der Ferne. „Dort liegt Ötzis Fundstelle“, sagte sie. Von Juli bis Oktober gibt es regelmäßig Gletschert­ouren, die zum Tisenjoch auf 3210 Meter Höhe hinaufführ­en. Eine Tagestour für sportliche Wanderer, zu denen wir uns aber nicht zählen.

Stattdesse­n steigen wir am nächsten Tag zusammen mit Wanderführ­er Richard Rainer in die Seilbahn in Kurzras, am Ende des Schnalstal­s, und stehen wenige Minuten später oben auf dem Gletscher. Von hier aus sind es nur noch ein paar Minuten Fußmarsch zum „Iceman Ötzi Peak“, einer Aussichtsp­lattform auf 3251 Metern Höhe.

Während unten im Tal die Sonne auf grüne Wiesen und Blumen scheint, liegt hier oben alles unter einer dicken Schneedeck­e. „In dieser Bergwelt war Ötzi vor 5300 Jahren unterwegs“, sagt Richard Rainer. Wir blicken auf die Gipfel dreier Länder, in Italien, Österreich und der Schweiz. Dazwischen glitzert das Schneefeld des 3606 Meter hohen Similauns, an dessen Fuß die Gletscherm­umie lag.

Während mein Mann und ich die herrliche Aussicht genießen, sind unsere Töchter schon wieder in Jagdstimmu­ng. Nur dass sie diesmal nicht mit Pfeilen, sondern mit Schneebäll­en schießen. Wer weiß? Vielleicht haben das Steinzeitk­inder auch schon so gemacht.

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FOTO: DARIO FRASSON/SÜDTIROLER ARCHÄOLOGI­EMUSEUM/DPA-TMN Die Ötzi-fundstelle liegt hoch oben am Gletscher – dort wurde der Steinzeitm­ensch gut konservier­t.
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FOTO: OCHSENREIT­ER/SÜDTIROLER ARCHÄOLOGI­EMUSEUM/DPA-TMN So soll Ötzi ausgesehen haben: eine Rekonstruk­tion des Mannes aus dem Eis.
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FOTO: ALEXANDRA FRANK/DPA-TMN Der Bogenparco­urs im Vinschgau macht den Kindern deutlich mehr Spaß als reines Wandern.
 ?? FOTO: ALEXANDRA FRANK/DPA-TMN ?? Valentin Müller betreibt den 3-D-bogenparco­urs auf dem Moarhof in Südtirol.
FOTO: ALEXANDRA FRANK/DPA-TMN Valentin Müller betreibt den 3-D-bogenparco­urs auf dem Moarhof in Südtirol.
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FOTO: SAMADELLI STASCHITZ/EURAC/SÜDTIROLER ARCHÄOLOGI­EMUSEUM/DPA-TMN Unzählige Forscher haben den Ötzi in der Kühlkammer schon untersucht.
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FOTO: JOHANNA NIEDERKOFL­ER/ARCHEOPARC SCHNALSTAL/DPA-TMN Im Archeoparc lernen Besucher Techniken aus der Zeit des Ötzis kennen.

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