Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Neuer Wirkstoff gegen das Vergessen
Erstmals nach knapp 20 Jahren wird in Amerika wieder ein Medikament gegen Alzheimer zugelassen. Was das neue Mittel kann und warum manche Experten skeptisch sind.
Rund 1,6 Millionen Menschen leiden in Deutschland an einer Demenzerkrankung. Jährlich kommen nach Einschätzung der Deutschen Alzheimergesellschaft etwa 300.000 Fälle dazu. Tendenz steigend. Für das Jahr 2050 prognostiziert die Gesellschaft etwa 2,4 bis 2,8 Millionen Betroffene. Unter dem Begriff Demenz fassen Fachleute rund 50 Erkrankungen zusammen, die mit dem Abbau der Gehirnleistung einhergehen. Alzheimer ist mit Abstand die häufigste Form der Demenz. Rund zwei Drittel der Demenzkranken leiden daran. Nun hat die Us-zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) erstmals nach 2002 grünes Licht für ein neues Medikament zur Behandlung von Alzheimer gegeben. Ein Schritt, der unter Experten umstritten ist. Antworten auf zentrale Fragen.
Was passiert bei der Alzheimer-krankheit?
Unser Gehirn hat etwa 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen). Bei der Alzheimer-erkrankung sterben diese nach und nach ab. Neuronen kommunizieren über spezielle Kontaktstellen an den Nervenenden, die Synapsen. Dort werden Informationen durch Botenstoffe von Zelle zu Zelle weitergeleitet. Bei Alzheimer-patienten wird diese Informationsübertragung an den Kontaktstellen zunehmend beeinträchtigt. Im weiteren Verlauf gehen die Nervenzellen zugrunde. Im Gehirn bilden sich dann Eiweißablagerungen, sogenannte Plaques. Sie bestehen aus körpereigenen Eiweißen, den Amyloid- und Tau-proteinen. Der Verfall des Gehirns führt bei den Erkrankten zu einem zunehmenden Gedächtnisverlust und Orientierungslosigkeit. Auch Persönlichkeit und Verhalten ändern sich mit der Zeit. Viele Betroffene werden etwa unruhig oder depressiv.
Was kann das neue Medikament?
Der in den USA zugelassene Wirkstoff heißt Aducanumab, die US-FIRma Biogen vermarktet ihn unter dem Namen Aduhelm. Es ist ein menschlicher Antikörper, der die Amyloid-ablagerungen im Hirngewebe von Patienten erkennt. Dies ist nach Einschätzung der FDA ein völlig neuartiger Therapie-ansatz in der Behandlung von Alzheimer. Den geistigen Verfall der Betroffenen kann das Mittel nicht rückgängig machen, aber: Aducanumab verlangsame das Voranschreiten der Erkrankung. Das Mittel wird als monatliche Infusion verabreicht. Vor allem in höheren Dosen verabreicht, reduzierte es in den klinischen Studien die Plaque-klumpen im Gehirngewebe.
Die Zulassung des Medikaments ist umstritten. Warum?
Es gab in den vergangenen Jahren widersprüchliche Forschungsergebnisse zum Wirkstoff. 2019 wurden zwei klinische Studien zur Erprobung von Aducanumab abgebrochen. Das Mittel hatte zwar zunächst positive Ergebnisse erzielt, aber letztlich den vorgegebenen zeitlichen Endpunkt nicht erreicht. Wenige Monate später brachte dann eine erneute Analyse der Daten aus den abgebrochenen Studien eine neue Wendung: Denn ein Teil der Studienteilnehmer hatte nach dem offiziellen Abbruch der Testreihe die Therapie fortgesetzt und so den avisierten Studien-zeitraum von 18 Monaten erreicht. Es zeigte sich, so heißt es vom Hersteller Biogen, dass Aducanumab in hoher Dosis sehr wohl eine signifikante Besserung im Frühstadium der Erkrankung erzielte. Auch beobachtete man eine erhebliche Verringerung der Eiweiß-ablagerungen im Gehirn. Ein internes Beratergremium der FDA stimmte angesichts dieser widersprüchlichen Erkenntnisse im vergangenen November gegen die Einführung des Medikaments. Dennoch erfolgte nun die Zulassung im beschleunigten Verfahren.
Dieses wird angewendet, wenn die FDA ein Medikament für nützlich in der Anwendung hält, es aber noch Unsicherheiten gibt. Man sehe mehr Chancen als Risiken, begründet die FDA ihre Entscheidung. Außerdem habe Hersteller Biogen die Auflage, weitere Studien durchzuführen. Man sei sich der erhöhten Aufmerksamkeit für Aducanumab aber bewusst und werde Nutzen und Verträglichkeit weiter beobachten. „Wenn der Wirkstoff nicht so wirkt wie vorgesehen, können wir Schritte unternehmen, um ihn wieder vom Markt zu holen“, heißt es seitens der Behörde.
Gibt es Nebenwirkungen der neuartigen Behandlung?
Ja. Die häufigsten Nebenwirkun
gen waren in beiden Studien das Auftreten von leichten Hirnschwellungen und Kopfschmerzen. „Das Hirnödem verlief bei den meisten Patienten symptomlos und bildete sich innerhalb von wenigen Wochen in der Regel ohne Folgeschäden zurück“, schreibt Aerzteblatt.de.
Wie wird die Alzheimer-krankheit momentan therapiert?
Die Krankheit Alzheimer gilt bis heute als nicht heilbar. Mit speziellen Medikamenten (Antidementiva) kann lediglich der Abbau der Gehirnleistung ein Stück weit hinausgezögert werden. In Deutschland sind derzeit vier solcher Mittel zugelassen. Für die weiteren Begleiterscheinungen der Erkrankungen wie Depressionen und Verhaltensauffälligkeiten gibt es Antidepressiva und Neuroleptika.
Wird Aducanumab auch in der Europäischen Union zugelassen?
Das steht noch nicht fest. Biogen bemüht sich auch um die Zulassung bei der Europäischen Arzneimittelagentur Ema. Ein entsprechender Antrag liegt dort bereits vor. Wann darüber entschieden wird, ist noch offen.