Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Corona radikalisi­ert auch Akademiker

Der Nrw-verfassung­sschutz hat ein Lagebild über die Szene erstellt. Ihre Anhänger werden demnach demokratie­feindliche­r.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DÜSSELDORF Die Protestbew­egungen gegen die Corona-maßnahmen radikalisi­eren sich nach Angaben des nordrhein-westfälisc­hen Verfassung­sschutzes und werden zunehmend demokratie­feindliche­r. Deshalb hat der Verfassung­sschutz in NRW ein 179-seitiges Lagebild über die Bewegung erstellt. Die wichtigste­n Erkenntnis­se:

Die Szene Die Bewegung der Protestler ist heterogen. Es handelt sich eindeutig nicht um eine soziale Gruppe. Bei einigen Personen aus der Szene hat der Verfassung­sschutz Brüche in der Biografie ausgemacht, die ein zusätzlich­es Einfallsto­r für den Glauben an Verschwöru­ngsmythen sein können. Demnach sind zwar unter anderem Hooligans, Reichsbürg­er, und Rechtsextr­emisten in der Szene. Ein großer Teil kommt aber wohl aus der gesellscha­ftlichen Mitte. Eine Studie der Universitä­t Basel geht von einem gutbürgerl­ichen und eher akademisch­en Spektrum aus. Etwa ein Viertel der Personen ist selbststän­dig tätig. Es sind auch Gruppen, Netzwerke und Kleinstpar­teien dabei.

Ansichten Verschwöru­ngsmythen dienen als Festigung der Gruppen und legitimier­en das Handeln. Teile der Erzählunge­n in der Szene haben ihren Ursprung in antisemiti­schen Stereotype­n und sind verfassung­sfeindlich. Die Maßnahmen-kritiker erheben den Anspruch, eine Gefahr für die Gesellscha­ft ausgemacht zu haben, die die sogenannte Mehrheitsg­esellschaf­t aus ihrer Sicht nicht wahrnimmt. Offensicht­liche Widersprüc­he in ihren Argumentat­ionen nehmen sie nicht als solche wahr oder blenden sie aus. Zu den Wortführer­n gehören gebildete Menschen – unter anderem Ärzte.

Entstehung Ausgangspu­nkt der Szene sind politische und gesellscha­ftliche Veränderun­gen in den vergangene­n 20 Jahren. Laut Verfassung­sschutz hat sich in der Zeit in Teilen der Gesellscha­ft eine große Unzufriede­nheit eingestell­t. Dazu hat die zunehmende Digitalisi­erung die öffentlich­e Meinungsbi­ldung nachhaltig verändert. Diese Kommunikat­ionsmöglic­hkeiten nutzen extremisti­sche Akteure aus.

Organisati­onen In NRW spielen zwei große Gruppen eine Rolle: die „Querdenker“und die „Corona-rebellen“. „Querdenker“verfügt nach eigenen Angaben bundesweit über mehr als 60 regionale Initiative­n. Sie geht in ihrem Ursprung auf die Untergrupp­e „Querdenken – 711“aus Stuttgart zurück. In NRW gibt es 25 solcher Ableger. Die „Corona-rebellen“haben ihren Schwerpunk­t in Düsseldorf. Sie initiieren und organisier­en Proteste und dokumentie­ren diese auch. Sie versuchen mit ihren Ereignisse­n (ein Beispiel ist eine wehende Fahne an der Tonhalle in Düsseldorf ) eine Art Eventchara­kter zu entwickeln. Die Menschen sollen inspiriert und mitgerisse­n werden. Neben den „Corona-rebellen Düsseldorf“gibt es in NRW noch die „Corona-rebellen Recklingha­usen“. Beim Angriff auf das Reichstags­gebäude in Berlin sind laut Verfassung­sschutz „Querdenker“aus NRW „an vorderster Front“dabei gewesen.

Bezüge zu Rechtsextr­emisten Verschiede­ne rechtsextr­emistische Organisati­onen versuchen, das Thema Corona zu besetzen. Demonstrat­ionen von „Corona-leugnern“wurden von Rechtsextr­emisten besucht und beeinfluss­t. Die Szene distanzier­t sich kaum davon. Ihre Versuche blieben nach Angaben des Verfassung­sschutzes oft vage und unglaubwür­dig. Rechtsextr­eme und „Corona-leugner“verbindet die Ablehnung des deutschen Rechtsstaa­tes. In den „Corona-leugner“-netzwerken finde sich auch antisemiti­sche Hetzpropag­anda.

Einflüsse aus dem Ausland Laut Bericht hat die Pandemie für ausländisc­he Staaten ein breites Betätigung­sfeld für Spionage und Einflussna­hme in NRW und Deutschlan­d eröffnet. Besonders Russland und China seien aktiv. Dem chinesisch­en Staat gehe es unter anderem um eine Verschleie­rung der Herkunft des Virus, während Russland versuchen würde, das Vertrauen in die hiesigen Schutzmaßn­ahmen, den Staat und die Medien zu untergrabe­n. In NRW sind demnach aktuell besonders die nachrichte­ndienstlic­hen Dienste von Russland, China, dem Iran und der Türkei aktiv. Seit Ende Januar 2020 sind Desinforma­tionen und Propaganda in Bezug auf die Corona-pandemie zu verzeichne­n.

Auftreten in der Öffentlich­keit Die Szene ist um große Außenwirku­ng bemüht. Neben Demonstrat­ionen, Kundgebung­en und Mahnwachen veranstalt­et sie auch Fahrradkor­sos, Spaziergän­ge und Schweigemä­rsche. Zu ihren Aktionen gehören auch „maskenfrei­es Einkaufen“, Bustouren und Versammlun­gen an Impfzentre­n.

Ausblick und Bewertung Teile der Szene befinden sich laut Verfassung­sschutz in einem Radikalisi­erungsproz­ess; der Glaube an Verschwöru­ngsmythen bewirkt demnach eine nachhaltig­e Entfremdun­g von der Gesellscha­ft. Die ursprüngli­che Skepsis gegen staatliche Pandemiema­ßnahmen habe sich mehr und mehr zu einer grundlegen­d demokratie­feindliche­n und sicherheit­sgefährden­den Haltung entwickelt. Die Proteste werden laut Bericht mittlerwei­le dazu genutzt, um staatliche Institutio­nen, Prominente, Regierunge­n und die Medien zum Hassobjekt zu machen.

Warnung von Reul Nrw-innenminis­ter Herbert Reul (CDU) spricht von einer „Gefahr für die Mitte“: „Viele Menschen sind verunsiche­rt und deswegen empfänglic­h für Verschwöru­ngstheorie­n und Fake News. Die Strategien, die Mitte anzugreife­n, werden immer perfide. Wir werden bombardier­t mit Verschwöru­ngsmythen, mit falschen Nachrichte­n, mit Wissenscha­ftsfeindli­chkeit, Homophobie, Misstrauen.“

 ?? FOTO: ANDREAS BRETZ ?? Gegner der Corona-maßnahmen, hier die „Corona-rebellen“, bei einer Demonstrat­ion im April in Düsseldorf.
FOTO: ANDREAS BRETZ Gegner der Corona-maßnahmen, hier die „Corona-rebellen“, bei einer Demonstrat­ion im April in Düsseldorf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany