Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Corona radikalisiert auch Akademiker
Der Nrw-verfassungsschutz hat ein Lagebild über die Szene erstellt. Ihre Anhänger werden demnach demokratiefeindlicher.
DÜSSELDORF Die Protestbewegungen gegen die Corona-maßnahmen radikalisieren sich nach Angaben des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes und werden zunehmend demokratiefeindlicher. Deshalb hat der Verfassungsschutz in NRW ein 179-seitiges Lagebild über die Bewegung erstellt. Die wichtigsten Erkenntnisse:
Die Szene Die Bewegung der Protestler ist heterogen. Es handelt sich eindeutig nicht um eine soziale Gruppe. Bei einigen Personen aus der Szene hat der Verfassungsschutz Brüche in der Biografie ausgemacht, die ein zusätzliches Einfallstor für den Glauben an Verschwörungsmythen sein können. Demnach sind zwar unter anderem Hooligans, Reichsbürger, und Rechtsextremisten in der Szene. Ein großer Teil kommt aber wohl aus der gesellschaftlichen Mitte. Eine Studie der Universität Basel geht von einem gutbürgerlichen und eher akademischen Spektrum aus. Etwa ein Viertel der Personen ist selbstständig tätig. Es sind auch Gruppen, Netzwerke und Kleinstparteien dabei.
Ansichten Verschwörungsmythen dienen als Festigung der Gruppen und legitimieren das Handeln. Teile der Erzählungen in der Szene haben ihren Ursprung in antisemitischen Stereotypen und sind verfassungsfeindlich. Die Maßnahmen-kritiker erheben den Anspruch, eine Gefahr für die Gesellschaft ausgemacht zu haben, die die sogenannte Mehrheitsgesellschaft aus ihrer Sicht nicht wahrnimmt. Offensichtliche Widersprüche in ihren Argumentationen nehmen sie nicht als solche wahr oder blenden sie aus. Zu den Wortführern gehören gebildete Menschen – unter anderem Ärzte.
Entstehung Ausgangspunkt der Szene sind politische und gesellschaftliche Veränderungen in den vergangenen 20 Jahren. Laut Verfassungsschutz hat sich in der Zeit in Teilen der Gesellschaft eine große Unzufriedenheit eingestellt. Dazu hat die zunehmende Digitalisierung die öffentliche Meinungsbildung nachhaltig verändert. Diese Kommunikationsmöglichkeiten nutzen extremistische Akteure aus.
Organisationen In NRW spielen zwei große Gruppen eine Rolle: die „Querdenker“und die „Corona-rebellen“. „Querdenker“verfügt nach eigenen Angaben bundesweit über mehr als 60 regionale Initiativen. Sie geht in ihrem Ursprung auf die Untergruppe „Querdenken – 711“aus Stuttgart zurück. In NRW gibt es 25 solcher Ableger. Die „Corona-rebellen“haben ihren Schwerpunkt in Düsseldorf. Sie initiieren und organisieren Proteste und dokumentieren diese auch. Sie versuchen mit ihren Ereignissen (ein Beispiel ist eine wehende Fahne an der Tonhalle in Düsseldorf ) eine Art Eventcharakter zu entwickeln. Die Menschen sollen inspiriert und mitgerissen werden. Neben den „Corona-rebellen Düsseldorf“gibt es in NRW noch die „Corona-rebellen Recklinghausen“. Beim Angriff auf das Reichstagsgebäude in Berlin sind laut Verfassungsschutz „Querdenker“aus NRW „an vorderster Front“dabei gewesen.
Bezüge zu Rechtsextremisten Verschiedene rechtsextremistische Organisationen versuchen, das Thema Corona zu besetzen. Demonstrationen von „Corona-leugnern“wurden von Rechtsextremisten besucht und beeinflusst. Die Szene distanziert sich kaum davon. Ihre Versuche blieben nach Angaben des Verfassungsschutzes oft vage und unglaubwürdig. Rechtsextreme und „Corona-leugner“verbindet die Ablehnung des deutschen Rechtsstaates. In den „Corona-leugner“-netzwerken finde sich auch antisemitische Hetzpropaganda.
Einflüsse aus dem Ausland Laut Bericht hat die Pandemie für ausländische Staaten ein breites Betätigungsfeld für Spionage und Einflussnahme in NRW und Deutschland eröffnet. Besonders Russland und China seien aktiv. Dem chinesischen Staat gehe es unter anderem um eine Verschleierung der Herkunft des Virus, während Russland versuchen würde, das Vertrauen in die hiesigen Schutzmaßnahmen, den Staat und die Medien zu untergraben. In NRW sind demnach aktuell besonders die nachrichtendienstlichen Dienste von Russland, China, dem Iran und der Türkei aktiv. Seit Ende Januar 2020 sind Desinformationen und Propaganda in Bezug auf die Corona-pandemie zu verzeichnen.
Auftreten in der Öffentlichkeit Die Szene ist um große Außenwirkung bemüht. Neben Demonstrationen, Kundgebungen und Mahnwachen veranstaltet sie auch Fahrradkorsos, Spaziergänge und Schweigemärsche. Zu ihren Aktionen gehören auch „maskenfreies Einkaufen“, Bustouren und Versammlungen an Impfzentren.
Ausblick und Bewertung Teile der Szene befinden sich laut Verfassungsschutz in einem Radikalisierungsprozess; der Glaube an Verschwörungsmythen bewirkt demnach eine nachhaltige Entfremdung von der Gesellschaft. Die ursprüngliche Skepsis gegen staatliche Pandemiemaßnahmen habe sich mehr und mehr zu einer grundlegend demokratiefeindlichen und sicherheitsgefährdenden Haltung entwickelt. Die Proteste werden laut Bericht mittlerweile dazu genutzt, um staatliche Institutionen, Prominente, Regierungen und die Medien zum Hassobjekt zu machen.
Warnung von Reul Nrw-innenminister Herbert Reul (CDU) spricht von einer „Gefahr für die Mitte“: „Viele Menschen sind verunsichert und deswegen empfänglich für Verschwörungstheorien und Fake News. Die Strategien, die Mitte anzugreifen, werden immer perfide. Wir werden bombardiert mit Verschwörungsmythen, mit falschen Nachrichten, mit Wissenschaftsfeindlichkeit, Homophobie, Misstrauen.“