Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Alles soll gehen — mit neuen Schulden
ANALYSE Olaf Scholz plant in seinem letzten Etatentwurf mit einer Neuverschuldung von 100 Milliarden Euro. Auch eine neue, voraussichtlich unionsgeführte Regierung will so schnell nicht aus den Defiziten herausfinden.
Olaf Scholz ist ein scheidender Finanzminister. Er wird mit dem Haushaltsentwurf für das Jahr 2022, den er an diesem Mittwoch vom Kabinett hat absegnen lassen, nichts mehr zu tun haben – es sei denn, er wird Bundeskanzler oder erneut Bundesminister. Aber danach sieht es, schaut man in die Umfragen, eher nicht aus. Scholz’ letzter Etatentwurf ist also reine Formsache, aber nötig, damit der Bund zu Beginn des neuen Jahres eine Rechtsgrundlage für seine Ausgaben hat. Die neue Bundesregierung wird dem neuen Bundestag wohl erst im Herbst 2022 eine völlig veränderte Haushalts- und Finanzplanung vorlegen. Sie dürfte kaum bescheidener ausfallen als die aktuelle, das legt der Blick in die Wahlprogramme nahe.
Mit der Corona-krise wurde ein Paradigmenwechsel in der deutschen Finanzpolitik eingeleitet, den sich die SPD schon lange gewünscht hatte und den nun auch die Union mit ihrem Programm für die Bundestagswahl endgültig vollzieht: Die Zeit der ausgeglichenen Bundeshaushalte ist vorbei, eine neue Zeit des „Deficit Spending“hat mit dem Ausbruch der Krise begonnen und soll nun fortgesetzt werden.
Scholz bereitet dafür den
Weg mit einem komfortablen Haushaltsentwurf, der auch
2022 noch einmal ein hohes
Defizit von fast 100 Milliarden
Euro vorsieht. Die Schuldenbremse soll abermals mit dem
Verweis auf die außerordentliche Notlage der Corona-krise nicht angewendet werden – ob diese Begründung angesichts der aktuellen guten Corona-lage vor dem Verfassungsgericht standhalten würde, ist eine offene Frage, die Scholz nicht mehr beantworten muss. Eine Rücklage von rund 50 Milliarden Euro lässt der Minister unangetastet, damit – zumindest auf dem Papier – die Schuldenbremse 2023 wieder eingehalten werden kann. 31 Milliarden Euro aus der Rücklage sollen helfen, das absehbare Loch im Haushalt 2023 zu stopfen.
In den Haushaltsentwurf hat Scholz acht Milliarden Euro für ein Klimaschutzsofortprogramm eingearbeitet, das die scheidende Regierung noch schnell auf den Weg gebracht hat, nachdem ihr das Verfassungsgericht beim Klimaschutz Beine gemacht hatte. Zudem sind erheblich steigende Zuschüsse zur Sozialversicherung nötig, und das ist nicht allein eine Folge der Corona-krise. Die erhöhten Zuschüsse an die Renten-, Pflege- und Krankenversicherung sind auch Folge der sich beschleunigenden Alterung, der üppigen Rentengeschenke der großen Koalition, des medizinischen Fortschritts und der wachsenden sozialen Spaltung.
Damit wird die künftige Regierung zu kämpfen haben – neben der alles andere überragenden Aufgabe des Klimaschutzes. Die Union, die die Wahl am ehesten gewinnen kann, hat sich entschieden, trotz der enormen Herausforderungen in der nahen Zukunft nicht miesepetrig zu sein, sondern gute Laune zu verbreiten. Alles soll funktionieren: Die Rente soll sicher bleiben, der Gesundheitsschutz exzellent, die Wirtschaft stark, der Sozialstaat auskömmlich. Der Klimaschutz werde wirksam bekämpft, Bürger und Unternehmen sogar spürbar entlastet, indem der Solidaritätszuschlag für alle und die Ökostrom-umlage gestrichen werden und der Firmensteuersatz auf 25 Prozent sinkt. Gleichzeitig steht die Union aber weiter zur Schuldenbremse, sie sagt nur nicht, wann sie sie wieder einhalten will.
Bei der Schuldenbremse ist SPD-KONkurrent Scholz mit seiner Finanzplanung für 2023 mithin sogar ehrgeiziger als die Union. Die will den Haushalt durch mehr Wirtschaftswachstum und höhere Steuereinnahmen ausgleichen – aber wer weiß, wann. Zudem setzt sie auf die Schützenhilfe eines künftigen Koalitionspartners. Die Grünen etwa wollen die Schuldenbremse reformieren: Die Netto-investitionen – derzeit 50 Milliarden, künftig möglicherweise bis zu 100 Milliarden Euro jährlich – sollen herausgerechnet werden, sodass eine deutlich höhere Kreditaufnahme auch verfassungsrechtlich möglich würde.
Das Lager der Ökonomen ist wie immer gespalten, wenn es um den richtigen Finanzkurs geht: Zwei Ökonomen, drei Meinungen. Der unabhängige Beirat des Stabilitätsrats, der das Finanzverhalten des Staates kontrollieren soll, sieht gar nicht die Notwendigkeit, die Schuldenbremse 2022 erneut auszusetzen. Scholz hätte die Rücklage im nächsten Jahr und nicht erst 2023 nutzen sollen, der Konsolidierungsdruck für die nächste Regierung wäre dann überschaubar gewesen, so der Rat.
Michael Hüther, als Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft eher dem konservativen Lager zuzuordnen, ist ein entschiedener Gegner des sturen Festhaltens an der Schuldenbremse. Hüther fordert, die Tilgung der Corona-schulden zu strecken und einen Investitionsfonds für den Klimaschutz einzurichten. Auch Ifo-chef Clemens Fuest, ebenfalls kein Linker, gibt sich undogmatisch, was die künftige Verschuldung angeht: „Meines Erachtens ist es gerechtfertigt, in der Finanzpolitik in der kommenden Legislaturperiode wirtschaftliche Erholung zu priorisieren, auch wenn das bedeutet, einen langsameren Rückgang der Neuverschuldung hinzunehmen.“
Die Union solle den Bürgern aber reinen Wein einschenken, findet die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer. „Es überrascht nicht, dass sich eine Partei in ihrem Wahlprogramm nicht gerne darauf festlegen will, wie sie ihre Wahlversprechen zu finanzieren beabsichtigt“, sagt sie spitz. „Allerdings hätte man sich bei einer Partei, die so stark auf die baldige Wiedereinhaltung der Schuldenbremse pocht, doch gewünscht, sie wäre hier deutlich konkreter geworden. Entscheidend wird am Ende sein, ob die geplanten Maßnahmen das Wachstum wirklich ankurbeln werden. Da wird es im Wahlkampf noch viel nachzufragen geben.“