Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die kühle Rechnung des Viktor Orbán
Viktor Orbán wollte sich nicht auspfeifen lassen. Er wollte sich auch nicht mit Regenbogenfähnchen zuwinken lassen. Vor allem aber wollte der ungarische Regierungschef vermeiden, dass solche Bilder aus München in Millionen heimische Wohnzimmer übertragen werden. Nur deshalb hat Orbán seine Reise zum Em-spiel Deutschland gegen Ungarn am Mittwoch kurzfristig abgesagt, nicht etwa aus Angst vor politischem Gegenwind. Das sollte jeder bedenken, der den Streit um das ungarische „Jugendschutzgesetz“weiter publikumswirksam anzuheizen gedenkt. Keine Frage: Das Gesetz diskriminiert Jugendliche, die sich nicht zu einer vermeintlichen heterosexuellen Normalität bekennen, auf unerträgliche Weise. Deshalb ist es auch zutreffend, wenn Eu-kommissionschefin Ursula von der Leyen von einer „Schande“spricht. Aber man darf davon ausgehen, dass Orbán all das einkalkuliert hat.
Denn dem rechtsnationalen Regierungschef geht es um etwas ganz anderes als um eine ideologisch getriebene Homosexuellen-hatz. Die Wahrheit ist viel schlichter: In zehn Monaten wird in Ungarn gewählt. Orbán droht erstmals seit 2010 eine Niederlage, weil sich die Opposition von weit links bis rechtsaußen zusammengeschlossen hat. Ein geeigneteres Thema konnte er gar nicht finden, um das grün-liberal-erzkonservative Bündnis seiner Gegner zu spalten.
Soll man also zu Homophobie schweigen, um einem solchen Machttaktiker nicht in die Hände zu spielen? Selbstverständlich nicht. Statt sich auf Schaugefechte wie jetzt in München einzulassen, wäre es aber besser, Orbán politisch zu bekämpfen. Und da haben die Verantwortlichen in Brüssel und Berlin bislang erschreckend wenig Handlungsbereitschaft gezeigt. Von der Leyen hat nun rechtliche Schritte angekündigt. Das jedoch klingt auch wieder nur nach Eu-routine. BERICHT EU: UNGARNS GESETZ IST EINE SCHANDE, TITELSEITE