Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Was auf den Zeugnissen fehlt
Zensuren allein zeigen nicht, was Schüler dieses Jahr geleistet haben.
Ein verkorkstes Schuljahr geht zu Ende. Und das wird nun an den meisten Schulen, wie üblich, in Zensuren gefasst. In harte Zahlen also, die Leistung auf den Punkt bringen und vergleichbar machen sollen. Daran hat es schon immer Kritik gegeben, weil Noten nur scheinbar objektiv sind und immer etwas Unerbittliches haben, so schwarz auf weiß und knapp und unverrückbar.
Wie schwierig es ist, am Ende eines Schuljahrs in Zensuren auszudrücken, was gewesen ist, wird in diesem Jahr besonders deutlich. Homeschooling, Wechselunterricht, Präsenzstunden, Vertretungsunterricht – die Beschulungsformen mit ihren so unterschiedlichen Ansprüchen wechselten teils so rasch, als wackle ein ungezogenes Kind am Lichtschalter. An, aus, an, aus. Es gab also jede Menge neue Herausforderungen, die auf keinem Zeugnis erfasst werden: digitale Plattformen einrichten, Arbeitszettel runter- und wieder hochladen, sich in digitalen Konferenzen zurechtfinden – und zu Wort melden, ohne Freunde sein, Eltern beim Unterricht um sich haben, keine Eltern um sich haben, wieder in der Klasse sitzen, Maske tragen, Selbsttests machen und und und.
Dass dabei viel Unterrichtsstoff auf der Strecke geblieben ist, belegen inzwischen Studien. Doch war das ablaufende Schuljahr ein Trainingslager in Sachen Flexibilität. Und Umgang mit Frust.
Vielleicht sollten in diesem Jahr also neben den Zensurblättern alternative Zeugnisse verteilt werden. In den digitalen Netzwerken kursieren schon Vorlagen – von Eltern handgeschrieben und bemalt. Da gibt es Rubriken wie „Das haben wir zusammen gemeistert“oder „Darauf kannst du stolz sein“. Oder: „Das wünsch ich mir für das nächste Jahr...“Man kann sich vorstellen, was Kinder dort eintragen würden. Und Lehrer. Und Eltern.
Das Zeugnis sollte in diesem Jahr also vor allem das sein: ein Schlusspunkt. Zäsur statt Zensur. Diese Mahnung gehört auf die Reifebescheinigung der Politik. Und sollte nach den Ferien der alte Schlendrian einsetzen, ist die Versetzung gefährdet.
Unsere Autorin ist Redakteurin des Ressorts Politik/meinung. Sie wechselt sich hier mit unserem stellvertretenden Chefredakteur Horst Thoren ab.