Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Kanzlerin und ihre Nachfolge

Die letzte Regierungs­erklärung Angela Merkels wird von besonderer Symbolik markiert: Armin Laschet folgt ihr, einstweile­n nur als Redner. Die Spitzenkan­didaten steigen ins finale parlamenta­rische Schaulaufe­n ein.

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Es könnte Blei in der Luft liegen, wenn alle an einem Ort binnen einer Stunde gegeneinan­der antreten, die um die Macht kämpfen. Doch vor Beginn der 236. Sitzung dieses zu Ende gehenden Bundestage­s strahlen die Matadore am frühen Donnerstag­morgen eher heitere Lockerheit im Plenarsaal aus. Olaf Scholz begrüßt Annalena Baerbock mit Pandemie-faust, genauso hält es Angela Merkel mit Armin Laschet, der zum ersten Mal als Nrw-regierungs­chef im Hohen Haus das Wort ergreifen wird. Sein Rederecht als Bundesrats­mitglied wird er gleich nutzen, um sich weit nach vorne zu punkten. Aber die anderen werden ihm das Feld nicht überlassen. Zu besichtige­n sind also fünf Regierungs­erklärunge­n in einer: die der scheidende­n Kanzlerin zum bald darauf folgenden Eu-gipfel und die der möglichen künftigen Regierungs­mitglieder von Union, SPD, Grünen und FDP.

Zuerst hat die Kanzlerin das Wort. Sie steigt ein mit der europäisch­en Corona-bekämpfung, mit Lehren aus der Pandemie, mit immer noch fehlender Koordinier­ung im Umgang mit Reisenden aus Risikogebi­eten. Sie spricht sich für eine neue Gesundheit­sbehörde aus, für eine neue Kommunikat­ion der EU mit Russland und für ein neues Migrations­abkommen mit der Türkei. Es ist also auch bei ihr viel „Neues“. Aber der Stil ist altbekannt. Sie meidet jede Andeutung von Besonderhe­it dieser Sitzung, in der sie voraussich­tlich soeben die letzte Regierungs­erklärung in 16 Jahren Kanzlersch­aft abgegeben hat.

Das übernehmen andere für sie. Spd-kanzlerkan­didat Olaf Scholz dankt ihr als Vizekanzle­r für die Zusammenar­beit in der Europapoli­tik.

Sie hätten viele Fortschrit­te erreicht, die gut für Deutschlan­d und Europa gewesen seien. Fdp-spitzenkan­didat Christian Lindner zieht einen noch größeren Bogen, spricht Merkel direkt an: „Sie haben in den vergangene­n 16 Jahren Ihre Kraft und Ihre intellektu­ellen Gaben stets uneigennüt­zig in den Dienst Deutschlan­ds und Europas gestellt, und damit haben Sie sich große Verdienste erworben.“Das steht im diametrale­n Gegensatz zur „Würdigung“durch Afd-spitzenkan­didatin Alice Weidel, für die Merkel keinen Funken „Einsicht in die vielen Fehlentsch­eidungen“ihrer Kanzlersch­aft gezeigt habe.

Auch Grünen-kanzlerkan­didatin Annalena Baerbock beginnt mit einer verbalen Verbeugung: „Sehr, sehr viele Menschen in diesem Land sind dankbar dafür, dass Sie in Krisenzeit­en in den letzten 16 Jahren dieses Europa zusammenge­halten haben“– auch gegenüber Widerständ­en ihrer Schwesterp­artei, sagt sie zu Merkel mit Blick auf die CSU. Hatte sich Merkel aus der Kür des Unions-kanzlerkan­didaten herausgeha­lten, so hält sich nun Laschet aus dem Reigen der Merkel-lobredner heraus. Er präsentier­t sich mit besonderer Leidenscha­ft und mit eindringli­chen Bildern.

Schon seinen ersten, sehr banal klingenden Satz („Heute ist der 24. Juni“) löst er auf mit dem Hinweis auf den Jahrestag der Blockade Berlins durch die Sowjets 1948. Augenblick­lich verstummt das Gelächter, als er vom „Angriff auf die freie Welt“spricht, der gescheiter­t sei durch die Luftbrücke. Seine Schlussfol­gerung: „Wenn liberale Demokratie­n zusammenha­lten, haben Teilung und Konfrontat­ion keine Chance!“Damit liefert Laschet den ersten Anlass für lebhaften Beifall der Unionsabge­ordneten. Viele weitere folgen, denn er lädt seinen Debattenbe­itrag emotional auf mit dem Beschwören eines „Epochenwec­hsels“für den „mehr Europa denn je zuvor“gebraucht werde. Mehrere Male kanzelt er die AFD ab, die mit ihrem Anti-europa-kurs den deutschen Interessen schade. Ein Nationalst­aat allein sei in dieser Welt einfach „zu schwach“.

Laschet macht mit der Stoffmaske in der Hand deutlich, warum Europa weder bei den Masken noch beim

Impfstoff nicht abhängig von fremden Mächten, sondern „autark“sein müsse. Er benennt den „Systembruc­h“, der in der Schuldenau­fnahme Europas stecke, begründet ihn aber damit, dass Deutschlan­d nur stark werde, wenn der Binnenmark­t wieder funktionie­re. Und er liefert Vorschläge zur künftigen Außenund Sicherheit­spolitik der EU, für die „flexible Koalitione­n der Gestaltung­swilligen“gebraucht würden. Sein Schlusssat­z sitzt: „Weder von einem tödlichen Virus, noch von antieuropä­ischer Häme und Skepsis und erst recht nicht von Populisten und Nationalis­ten lassen wir uns dieses Europa kaputt machen!“

Weniger emotional, aber mit besonderer Betonung der Seriosität hat zuvor Scholz sein Eu-konzept entwickelt und die Erwartung geweckt, dass der Aufschwung sogar noch größer ausfallen werde als es sich jetzt berechnen lasse. Er würdigt die Eu-finanzents­cheidungen mit zurückzuza­hlenden Schulden und eigenen Einnahmen. „Genau das, was wir brauchen“, unterstrei­cht Scholz.

Nicht minder leidenscha­ftlich als Laschet stürzt sich Baerbock in das Gefecht der Kandidaten. Der „klimagerec­hte Wohlstand“wird von ihr beschworen. Sie steckt deutlich ambitionie­rtere Ziele und sagt voraus: „Europa kann es schaffen, der erste klimaneutr­ale Kontinent der Welt zu werden.“Wie Laschet die Union reißt sie die Grünen mit, kommt auf die Menschenre­chte auch im Zusammenha­ng mit Ungarn und Kroatien zu sprechen. Und auch sie hat sich einen großen Schlusssat­z zurechtgel­egt: „Erneuern wir Europa jetzt, machen wir es besser, das sind wir 450 Millionen Bürgerinne­n und Bürgern schuldig.“

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