Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Kanzlerin und ihre Nachfolge
Die letzte Regierungserklärung Angela Merkels wird von besonderer Symbolik markiert: Armin Laschet folgt ihr, einstweilen nur als Redner. Die Spitzenkandidaten steigen ins finale parlamentarische Schaulaufen ein.
BERLIN Es könnte Blei in der Luft liegen, wenn alle an einem Ort binnen einer Stunde gegeneinander antreten, die um die Macht kämpfen. Doch vor Beginn der 236. Sitzung dieses zu Ende gehenden Bundestages strahlen die Matadore am frühen Donnerstagmorgen eher heitere Lockerheit im Plenarsaal aus. Olaf Scholz begrüßt Annalena Baerbock mit Pandemie-faust, genauso hält es Angela Merkel mit Armin Laschet, der zum ersten Mal als Nrw-regierungschef im Hohen Haus das Wort ergreifen wird. Sein Rederecht als Bundesratsmitglied wird er gleich nutzen, um sich weit nach vorne zu punkten. Aber die anderen werden ihm das Feld nicht überlassen. Zu besichtigen sind also fünf Regierungserklärungen in einer: die der scheidenden Kanzlerin zum bald darauf folgenden Eu-gipfel und die der möglichen künftigen Regierungsmitglieder von Union, SPD, Grünen und FDP.
Zuerst hat die Kanzlerin das Wort. Sie steigt ein mit der europäischen Corona-bekämpfung, mit Lehren aus der Pandemie, mit immer noch fehlender Koordinierung im Umgang mit Reisenden aus Risikogebieten. Sie spricht sich für eine neue Gesundheitsbehörde aus, für eine neue Kommunikation der EU mit Russland und für ein neues Migrationsabkommen mit der Türkei. Es ist also auch bei ihr viel „Neues“. Aber der Stil ist altbekannt. Sie meidet jede Andeutung von Besonderheit dieser Sitzung, in der sie voraussichtlich soeben die letzte Regierungserklärung in 16 Jahren Kanzlerschaft abgegeben hat.
Das übernehmen andere für sie. Spd-kanzlerkandidat Olaf Scholz dankt ihr als Vizekanzler für die Zusammenarbeit in der Europapolitik.
Sie hätten viele Fortschritte erreicht, die gut für Deutschland und Europa gewesen seien. Fdp-spitzenkandidat Christian Lindner zieht einen noch größeren Bogen, spricht Merkel direkt an: „Sie haben in den vergangenen 16 Jahren Ihre Kraft und Ihre intellektuellen Gaben stets uneigennützig in den Dienst Deutschlands und Europas gestellt, und damit haben Sie sich große Verdienste erworben.“Das steht im diametralen Gegensatz zur „Würdigung“durch Afd-spitzenkandidatin Alice Weidel, für die Merkel keinen Funken „Einsicht in die vielen Fehlentscheidungen“ihrer Kanzlerschaft gezeigt habe.
Auch Grünen-kanzlerkandidatin Annalena Baerbock beginnt mit einer verbalen Verbeugung: „Sehr, sehr viele Menschen in diesem Land sind dankbar dafür, dass Sie in Krisenzeiten in den letzten 16 Jahren dieses Europa zusammengehalten haben“– auch gegenüber Widerständen ihrer Schwesterpartei, sagt sie zu Merkel mit Blick auf die CSU. Hatte sich Merkel aus der Kür des Unions-kanzlerkandidaten herausgehalten, so hält sich nun Laschet aus dem Reigen der Merkel-lobredner heraus. Er präsentiert sich mit besonderer Leidenschaft und mit eindringlichen Bildern.
Schon seinen ersten, sehr banal klingenden Satz („Heute ist der 24. Juni“) löst er auf mit dem Hinweis auf den Jahrestag der Blockade Berlins durch die Sowjets 1948. Augenblicklich verstummt das Gelächter, als er vom „Angriff auf die freie Welt“spricht, der gescheitert sei durch die Luftbrücke. Seine Schlussfolgerung: „Wenn liberale Demokratien zusammenhalten, haben Teilung und Konfrontation keine Chance!“Damit liefert Laschet den ersten Anlass für lebhaften Beifall der Unionsabgeordneten. Viele weitere folgen, denn er lädt seinen Debattenbeitrag emotional auf mit dem Beschwören eines „Epochenwechsels“für den „mehr Europa denn je zuvor“gebraucht werde. Mehrere Male kanzelt er die AFD ab, die mit ihrem Anti-europa-kurs den deutschen Interessen schade. Ein Nationalstaat allein sei in dieser Welt einfach „zu schwach“.
Laschet macht mit der Stoffmaske in der Hand deutlich, warum Europa weder bei den Masken noch beim
Impfstoff nicht abhängig von fremden Mächten, sondern „autark“sein müsse. Er benennt den „Systembruch“, der in der Schuldenaufnahme Europas stecke, begründet ihn aber damit, dass Deutschland nur stark werde, wenn der Binnenmarkt wieder funktioniere. Und er liefert Vorschläge zur künftigen Außenund Sicherheitspolitik der EU, für die „flexible Koalitionen der Gestaltungswilligen“gebraucht würden. Sein Schlusssatz sitzt: „Weder von einem tödlichen Virus, noch von antieuropäischer Häme und Skepsis und erst recht nicht von Populisten und Nationalisten lassen wir uns dieses Europa kaputt machen!“
Weniger emotional, aber mit besonderer Betonung der Seriosität hat zuvor Scholz sein Eu-konzept entwickelt und die Erwartung geweckt, dass der Aufschwung sogar noch größer ausfallen werde als es sich jetzt berechnen lasse. Er würdigt die Eu-finanzentscheidungen mit zurückzuzahlenden Schulden und eigenen Einnahmen. „Genau das, was wir brauchen“, unterstreicht Scholz.
Nicht minder leidenschaftlich als Laschet stürzt sich Baerbock in das Gefecht der Kandidaten. Der „klimagerechte Wohlstand“wird von ihr beschworen. Sie steckt deutlich ambitioniertere Ziele und sagt voraus: „Europa kann es schaffen, der erste klimaneutrale Kontinent der Welt zu werden.“Wie Laschet die Union reißt sie die Grünen mit, kommt auf die Menschenrechte auch im Zusammenhang mit Ungarn und Kroatien zu sprechen. Und auch sie hat sich einen großen Schlusssatz zurechtgelegt: „Erneuern wir Europa jetzt, machen wir es besser, das sind wir 450 Millionen Bürgerinnen und Bürgern schuldig.“