Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wie der Zerfall Jugoslawiens begann
Vor 30 Jahren erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit, das sozialistische Jugoslawien zerfiel infolge blutiger Erbfolgekriege. Bis heute herrscht in Südosteuropa kein stabiler Frieden.
WIEN Die schwerste Wirtschaftskrise seit 1945, in die Jugoslawien nach dem Tod des Staatsgründers Josip Broz Tito 1980 geschlittert war, eskalierte immer mehr zu einer Systemkrise. Die Kommunistische Partei hatte vergeblich versucht, mit Schuldenpolitik die wachsenden politischen und sozialen Spannungen zwischen den sechs Teilrepubliken unter Kontrolle zu halten.
Das Nord-süd-gefälle war enorm: So hatten die Slowenen ein zehnmal höheres Einkommen als die Kosovo-albaner; allein die zwei Millionen Slowenen erwirtschafteten ein Viertel des Staatshaushalts, während die südlichen Regionen rückständig blieben. Die westlichen Kredite versickerten wirkungslos in der veralteten Industrie und vor allem im korrupten Staatsapparat.
Mitte der 1980er-jahre zählte Jugoslawien mit 22 Milliarden US-DOLlar zu den höchstverschuldeten Ländern der Welt, die Inflationsrate war dreistellig. Tito-jugoslawien ohne Tito erwies sich als nicht überlebensfähig.
Slobodan Milosevic nutzte die zunehmend nationalistischen Spannungen für seinen Aufstieg als starker Mann der Teilrepublik Serbien. Er war weder überzeugter Kommunist noch Nationalist, sondern ein eiskalter Machtpolitiker, der Serbien zum Nachfolgestaat Jugoslawiens machen wollte, dem sich alle übrigen Völker zu unterwerfen hätten. Die nötigen Waffen dazu hatte er: Die Jugoslawische Volksarmee ( JNA) war damals die viertgrößte Streitmacht Europas, die Führungsspitze und das Offizierkorps dominierten Serben.
Die von Milosevic gelenkten Massenmedien hatten das Hassklima gegen Kroaten, Bosnier und Kosovo-albaner längst aufgeheizt. Als Zündfunke zur Jugoslawien-katastrophe gilt seine berühmte Rede zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, bei der Milosevic vor Tausenden Serben von „neuen Schlachten, die uns bevorstehen“sprach. Nationalisten verklärten das Armenhaus Kosovo wegen der dort befindlichen orthodoxen Klöster zur „Wiege Serbiens“; bis dahin galt es lediglich als ein staubiges Nest von sezessionistischen albanischen Hinterwäldlern, das die Belgrader Regierung jahrelang mit Polizeiterror überzog, um sie zu vertreiben.
Alle Welt erwartete, dass als erstes das „Pulverfass“Kosovo in die Luft gehen würde. Doch es kam anders, der Kosovo-krieg fand erst 1998/99 statt, als letzter der Zerfallskriege. Diese begannen im verhältnismäßig reichen Norden, als Slowenien und Kroatien am 25. Juni 1991 ihre Unabhängigkeit ausriefen. Deren
Anführer, Milan Kucan und Franjo Tudjman, einte wenig mehr als die Gegnerschaft zu Milosevic und das gemeinsame Ziel der Unabhängigkeit für ihre Republiken.
Slowenien war für Milosevic uninteressant, dort lebten kaum Serben, die er hätte aufwiegeln können. „Sie können gehen, wenn sie wollen“, sagte er, als hätten die Slowenen seiner Erlaubnis bedurft. Allerdings war der Jna-generalstab anderer Meinung, er sah die territoriale Integrität Jugoslawiens gefährdet und schickte Truppen los. Der martialische Aufmarsch endete für die Generäle mit einer Blamage: Die Soldaten, darunter viele blutjunge Wehrdiener, blieben mit ihren Panzern in den Mais- und Getreideäckern stecken und wurden zu leichten Zielen für die slowenischen Territorialverteidiger. Der Krieg, von dem sich auch Österreich kurz bedroht fühlte, dauerte nur zehn Tage und forderte 44 Tote.
Kroatien war für Milosevics Pläne ungleich wichtiger, dort stellte die serbische Minderheit zwölf Prozent der Bevölkerung. Unter dem Vorwand, sie seien Unterdrückung und Lebensgefahr ausgesetzt, hatte er die Landsleute längst bewaffnet, um den katholischen Nachbarn an der Unabhängigkeit zu hindern. Die von langen Pausen unterbrochenen Kampfhandlungen endeten erst im Sommer 1995, mit der Zerschlagung der serbischen Rebellenregion „Krajina“durch die von den USA aufgerüstete Armee der jungen Republik. Insgesamt kamen in Kroatiens Unabhängigkeitskrieg rund 20.000 Menschen ums Leben.
Im Frühjahr 1992 begann der Krieg in Bosnien-herzegowina, Nachdem muslimische Bosnier und bosnische Kroaten für die Selbständigkeit ihrer Teilrepublik gestimmt hatten, erzwangen die bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic und Ratko Mladic mit Waffengewalt und politischer Rückendeckung Serbiens ihre eigene Republik, die sie mit dem Dayton-friedensabkommen 1995 auch legitimiert bekamen. Mit rund 100.000 Toten war der Bosnienkrieg der blutigste aller Jugoslawienkriege. Karadzic und Mladic sitzen als verurteilte Kriegsverbrecher im Gefängnis.
Der machtbewusste Kriegstreiber Milosevic war letztlich der große Verlierer, er hat keines seiner Ziele erreicht und starb 2006 vor Prozessende in seiner Zelle des Uno-kriegsverbrechertribunals in Den Haag. „Was Milosevic auch unternahm, wirkte sich zugunsten seiner Feinde aus, und zum Schaden der Serben“, schreibt sein Biograf Slavoljub Djukic. Noch heute weigert sich die Mehrheit der Serben, diese Sicht zu teilen.
Die demokratischen Systeme sind bis heute unterentwickelt und fragil geblieben, ihre Anführer anfällig für autoritäre Neigungen. Spannungsgeladen bleiben auch die regionalen Beziehungen. Ex-jugoslawien besteht nach wie vor aus einer Reihe eingefrorener Konflikte, besonders jener zwischen Serbien und Kosovo scheint kaum lösbar.