Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Nationaler Mangel an Trockeneis“

Nicht nur Lieferdien­ste, wie der von Frederic Knaudt, benötigen im Sommer große Mengen zur Kühlung. Die Hersteller haben aber gerade jetzt massive Probleme.

- VON FLORIAN RINKE

DÜSSELDORF Es klingt absurd: Während die Welt den Ausstoß von Kohlendiox­id verringern will, um den Klimawande­l zu bremsen, ist es gerade der Mangel dieses Gases, der Frederic Knaudt aktuell zu schaffen macht. „Durch einen nationalen Mangel an Trockeneis können wir dir vorerst leider keine tiefgekühl­ten Produkte mehr anbieten“, hieß es zuletzt in der App des Lebensmitt­el-lieferdien­stes Picnic, dessen Deutschlan­d-chef Knaudt ist.

Langnese-eis gibt es daher aktuell für viele Kunden genauso wenig bei Picnic wie Rotkohl von Iglo oder Aufback-pizza von Dr. Oetker. „Aktuell planen wir von Tag zu Tag mit demtrocken­eis, das wir geliefert bekommen“, sagt Frederic Knaudt. Das heißt: Manche Kunden haben Glück und können Tiefkühlpr­odukte ordern. Andere müssten bei Bedarf in den Supermarkt fahren.

Schuld ist Kohlendiox­id, auch bekannt unter der chemischen Summenform­el CO2. Das Gas wird in flüssiger Form benötigt, um daraus Trockeneis herzustell­en. Dabei handelt es sich im Grunde um eine Art Schnee aus Kohlensäur­e – nur eben mit minus 78,5 Grad viel kälter. Unter Druck werden dann Pellets, Blöcke oder Scheiben gepresst, die anschließe­nd in ganz verschiede­nen Bereichen zum Einsatz kommen.

In der Industrie werden Maschinen mit Trockeneis gereinigt, weil der Stoff beim Auftauen verdampft und damit – anders als beim Sandstrahl­en – keine Rückstände bleiben. Und dann sind da natürlich zum einen Online-lieferdien­ste wie Picnic oder auch Fluggesell­schaften, die Speisen und Getränke kühl halten müssen – ganz egal, ob auf der Straße oder über den Wolken. Und da ist die Pharmaindu­strie, die momentan große Mengen an Impfstoff sicher und kühl transporti­eren muss. Sie alle brauchen Trockeneis und konkurrier­en dabei um den Rohstoff CO2 noch mit Schlachtbe­trieben, in denen Schweine vor der Tötung damit betäubt werden, oder der Getränkein­dustrie, die Bier und Süßgetränk­e mit Kohlensäur­e versetzen will. Auch die basiert auf CO2.

Doch ausgerechn­et jetzt, wo viele Betriebe angesichts weitreiche­nder Öffnungen während der Pandemie den Betrieb hochfahren und der Kühlbedarf aufgrund höherer Temperatur­en steigt, haben viele Hersteller Probleme in der Produktion. Der Industrieg­ase-konzern Linde kündigte offenbar Mitte Juni an, dass man aktuell bei Trockeneis nicht lieferfähi­g sei. Eine Sprecherin betonte, dass man sich grundsätzl­ich bemühe, alle Kunden weiterhin zu beliefern, auch wenn eventuell Liefermeng­en reduziert werden müssten. Grund für den Lieferengp­ass sei die Abhängigke­it von der chemischen Industrie. Dort wird das CO2 gewonnen. So war zuletzt beim Chemieries­en BASF eine entspreche­nde Anlage kurzfristi­g ausgefalle­n. Inzwischen soll das Problem behoben sein. Auch beim Unternehme­n Nippon Gases heißt es: „Momentan kommt es erkennbar im Industrieg­asemarkt zu Versorgung­sengpässen beim Bezug von Kohlendiox­id-rohgas.“

Solche Engpässe sind im Sommer generell nicht ungewöhnli­ch. Kohlendiox­id wird als Nebenprodu­kt gewonnen, beispielsw­eise bei der Herstellun­g von Ammoniak. Ammoniak wiederum wird für Dünger verwendet – und weil Landwirte davon im Sommer weniger benötigen, nutzen viele Hersteller die Zeit, um die Maschinen zu warten. Doch das ist genau der Zeitraum, in dem die Nachfrage nach dem „Abfallprod­ukt“Kohlendiox­id steigt.

In den Sommermona­ten gebe es regelmäßig einen höheren Bedarf, heißt es auch bei Linde. Und so kommt es auch immer wieder mal zu Engpässen. 2020 hatte der Fleisch-onlinehänd­ler Otto Gourmet aus Heinsberg zwischenze­itlich Probleme, weil Trockeneis fehlte. Bereits 2018 konnte der Lieferdien­st Amazon Fresh in Berlin zeitweise keine Tiefkühlpr­odukte mehr anbieten. Und in Großbritan­nien berichtete­n

Medien damals sogar, dass durch den Kohlensäur­e-mangel das Bier in den Pubs knapp werde.

Auch Philipp Lüdicke kennt das Phänomen. Doch er sagt auch: „Dieses Mal ist der Engpass weitaus heftiger als vor ein oder zwei Jahren.“Lüdicke ist Geschäftsf­ührer des Unternehme­ns CE-O2 Trockeneis in Düsseldorf, das durch die Übernahme des Trockeneis-geschäfts vom französisc­hen Konzern Air Liquide zu einem der größten Anbieter bundesweit geworden ist. Er sagt: „In diesem Jahr gibt es in vielen Bereichen einen großen Bedarf – und dann kommt noch die Impfstoffl­ogistik hinzu, die mehr und mehr Fahrt aufnimmt.“

Die Betriebe priorisier­en daher – Impfstoff kommt vor Tiefkühl-pizza – und haben gleichzeit­ig höhere Kosten für die Beschaffun­g. Laut Philipp Lüdicke kostet eine Tonne CO2 zwischen 80 und 150 Euro. „Bei solchen Preisen lohnt sich der Transport über lange Strecken in der Regel nicht – oder er würde zu immensen Preissteig­erungen führen.“Normalerwe­ise ist die Trockeneis-produktion daher eher regional organisier­t: CO2 für Trockeneis aus Nordrhein-westfalen kommt entspreche­nd aus der chemischen Industrie in der näheren Umgebung.

„Trockeneis ist keine Lagerware, es wird auf Bedarf des Kunden hin am Tag vorher oder am gleichen Tag produziert“, sagt Lüdicke. Aktuell könne man am Standort Düsseldorf die volle Kapazität anbieten. „Aber auch wir haben höhere Kosten, die wir an die Kunden weitergebe­n müssen. Denn Trockeneis ist per se nicht sehr margenträc­htig.“Auch Konkurrent Linde nimmt aktuell einen Zuschlag, weil man die Produkte aus anderen Regionen Europas beschaffen müsse. Bei Linde geht man davon aus, dass die Probleme in den Sommermona­ten noch andauern werden.

Für Frederic Knaudt sind das keine guten Nachrichte­n. Denn das Problem ist: Genau wie für den Fleischhän­dler Otto Gourmet aus Heinsberg, wo 80 Prozent der Waren mit Trockeneis verschickt werden, gibt es für Picnic nicht viele Alternativ­en. „Kühlpacks sind ausreichen­d bei Milch, Joghurt oder Käse, aber für Tiefkühlwa­re wie Pizzen brauchen wir Trockeneis“, sagt Knaudt.

Die Ironie dabei ist: Ausgerechn­et der eigene Erfolg wird dem Lebensmitt­el-lieferdien­st gerade zum Verhängnis. Denn Picnic ist im vergangene­n Jahr rasant gewachsen. Die Kundenzahl hat sich in den vergangene­n zwölf Monaten auf inzwischen mehr als 200.000 vervierfac­ht – entspreche­nd rasant stieg dadurch auch der Bedarf an Trockeneis. Mehrere Tonnen verbraucht das Unternehme­n laut Knaudt davon inzwischen pro Tag. Und da Picnic in Deutschlan­d bislang nur in NRW unterwegs ist, konzentrie­rt sich die erhöhte Nachfrage auf eine Region.

Eine dauerhafte Kühlung in die Lieferfahr­zeuge einzubauen, wie es Konkurrent­en wie Eismann oder Bofrost machen, kommt für Knaudt nicht infrage. Einerseits würden das aktuell die Batterien der kleinen Elektrofah­rzeuge wohl kaum schaffen. Anderersei­ts wäre das aus Sicht von Knaudt auch Ressourcen­verschwend­ung: „Die Tiefkühlun­g müsste immer voll laufen, unabhängig davon, ob ich 50 oder ein Tiefkühlpr­odukt transporti­ere.“Picnic setzt auf Nachhaltig­keit – aber bei der Trockeneis­produktion hofft Frederic Knaudt dann doch darauf, dass bald mehr CO2 da ist.

„Aktuell planen wir von Tag zu Tag mit dem Trockeneis, das wir geliefert bekommen“Frederic Knaudt Deutschlan­d-chef von Picnic

Newspapers in German

Newspapers from Germany