Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Abschiedsgruß an den Handschlag
Es hat den Anschein, als begrüßten die Menschen einander kaum noch wie früher. Die neu gewonnene Freiheit findet in kreativeren und fürsorglicheren Gesten ihren Ausdruck. Das ist sympathisch. Und schön anzusehen.
Man muss gar nicht ins Theater gehen, sehenswerte Choreografien bekommt man derzeit frei Haus; nämlich jedes Mal, wenn zwei Menschen einander begrüßen. Das ist schön anzusehen, weil es oft etwas Unbeholfenes hat, etwas Beklommenes mitunter gar: Der eine tastet sich voran, denkt darüber nach, wie er nun eigentlich selbst begrüßen will und wie die andere Person wohl begrüßt werden möchte. Wie weit wage ich mich vor, ohne zu nahe zu treten? Manchmal sieht man dann drei imaginäre und geradezu gut gelaunte „G“s durch den Raum diffundieren: geimpft – getestet – genesen. Darauf folgt dann gerne eine Umarmung oder so ein Schulter-oberarm-kontakt. Vor allem unter Männern kommt es oft auch zu einer Faust-an-faust-geste, die immer ein bisschen an das lustige Zusammenklicken der Magneten an den Waggons der Brio-holzeisenbahn erinnert.
Jede Begrüßung, so hat es den Anschein, ist nun individuell, sie ist die Folge eines Denkprozesses: Zwei gehen im Kopf durch, was dem anderen wohl angenehm ist und wie man selbst dazu steht. Jede Begrüßung wird auf diese Weise zu einem Akt nicht bloß der Höflichkeit, sondern der Fürsorge und Selbstliebe, des größten gemeinsamen Nenners also. Genau richtig eigentlich als Voraussetzung für das postpandemische Miteinander, für den Neustart der wimmelnden Zivilisation. Deshalb ist es auch gar nicht schlimm, dass die jahrhundertealte Kulturtechnik des Handschlags die Lockdowns womöglich nicht überlebt hat. Ja, vielleicht ist das noch dieser eigenartigen Übergangszeit geschuldet, in der man sich seiner Sache nicht sicher sein kann. Und vielleicht kehrt sie dereinst tatsächlich zurück. Aber: Man begegnet ihr jetzt kaum noch.
Der Handschlag war ein MännerDing, er wurde wahrscheinlich eingeführt, weil der eine Krieger dem anderen so beweisen konnte, dass er unbewaffnet ist. Heute weiß indes kaum jemand sicher, ob er nicht doch Biowaffen auf der Handfläche trägt: Viren, Bakterien, Keime. Der amerikanische Virologe Anthony Fauci mahnte denn auch an, den Handschlag für alle Zeiten als Begrüßung zu vergessen. Virologisch sei er nicht bloß wegen Corona bedenklich. Das Bild, das diese Situation perfekt illustriert, ist das berühmte Plattencover von Pink Floyds „Wish You Were Here“aus dem Jahr 1975: Zwei geben einander die Hand, einer steht in Flammen. Die Botschaft: Mancher lebt nicht nur von der Hand in den Mund, im schlimmsten Fall stirbt er sogar daran.
Aber natürlich braucht der Mensch Berührung, ebenso wie ein Schwellenritual, das symbolisiert: Wir treten nun hinüber in einen Zustand des Vertrautseins und Miteinanders. So gibt es beispielsweise Studien, nach denen Geschäftspartner, die einander zu Beginn ihres Meetings nicht die Hand gereicht haben, drei Stunden benötigen, um im Gespräch zu derselben emotionalen Intensität zu finden, wie sie sie nach dem Handshake erreicht hätten. „Die Hand ist nicht die handfeste Alternative zur Abstraktion, sondern die handgreifliche Bedingung ihrer Möglichkeit“, schreibt Jochen Hörisch in seiner Kulturgeschichte der Hand.
Allerdings wurde der Handschlag im Laufe der Jahrhunderte entwertet. Als die SED ihn als Parteisymbol wählte, hätte man bereits misstrauisch werden müssen, schließlich war der Zusammenschluss von SPD und KPD, den er symbolisieren sollte, unfreiwillig vollzogen worden. Der Volksmund sprach denn auch von „abgehackten Händen“. Donald Trump deutete den Handschlag schließlich zu einer Machtdemonstration und einem Kräftemessen um und presste das Blut aus Emmanuel Macrons Fingern. Und Kritiker der Corona-schutzmaßnahmen wählten den Handschlag als bewusste Geste des Protests.
Der lateinische Wortstamm manus (für Hand) findet sich auch in dem Wort Emanzipation. Die Menschen emanzipieren sich gerade vom Handschlag, bestenfalls brechen sie auf zu etwas Neuem, zu einem anderen Miteinander, für das sie nur noch eine passende Geste finden müssen. Es gibt mehrere zur Auswahl: Hand ans Herz legen = bisschen pathetisch. Auf die Hüfte klopfen, danach verbeugen = ganz schön aufwendig. Ellenbogen an Ellenbogen = bei verschiedener Körpergröße schwierig zu timen und schlecht für die Schleimbeutel. Verbeugung = gut, kann aber gelegentlich ironisch wirken. Sanftes Reiben oder Drücken am Oberarm des Anderen und dazu lächeln = ganz schön.
Etikette ändert sich ständig, und die in bestimmten Zusammenhängen hierarchisch-verkrampfte und bisweilen unangenehm schmatzende Geste des Händeschüttelns ist von gestern. Stattdessen suchen die Menschen nach einer neuen Art, ohne Worte zu sagen, dass sie eine andere Person schätzen. Eine menschlichere, bewusstere, weniger ritualisierte, sondern stärker auf den jeweils anderen zugeschnittene vielleicht.
In jedem Fall ist das unsichere Lächeln, das die neue Art, „Hallo“zu sagen, meistens begleitet, allein schon die sympathischere Begrüßung.