Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Die Impfung muss zu den Menschen kommen“
Die Inzidenzen liegen beruhigend niedrig, doch die gefährlichere Delta-variante ist auf dem Vormarsch. Der Rki-präsident über die Gefahr einer vierten Welle und Empfehlungen fürs Reisen. Zu Fußballspielen vor Fans findet er klare Worte.
BERLIN Die Pandemie hat den Präsidenten des Robert-koch-institut ins Rampenlicht katapultiert. Dennoch hat Lothar Wieler seine ruhige, besonnene Art nicht verloren. Umso eindringlicher ist es, wenn er über ein mutierendes Virus spricht. Er setzt auf schnelle Fortschritte beim Impfen und hält den Schutz an Schulen noch lange für notwendig.
Herr Wieler, rechnen Sie damit, dass sich die Infektionslage noch im Sommer wieder verschärft?
WIELER Zuerst einmal möchte ich festhalten, dass wir die dritte Welle überwunden haben. Der weitere Verlauf hängt von unser aller Verhalten ab und von der Frage, ob wir die Aha+l-maßnahmen beibehalten. Vor allem in Innenräumen sollten wir weiterhin Mund-nasen-schutz tragen, die Kontakte reduzieren und Testangebote nutzten. Auch vom Impffortschritt hängt es ab, wann es wieder zu einem Anstieg der Zahlen kommt. Deshalb ist der Zeitpunkt schwer vorherzusagen. Sicher ist allerdings, dass es im Herbst und Winter wieder zu steigenden Zahlen kommt.
Wie hoch müsste der Anstieg ausfallen, dass Sie von einer vierten Welle sprechen?
WIELER Der Begriff der „Welle“wurde nie eindeutig definiert, das kann man auch nicht. Das wird auch im Herbst schwer festzustellen sein, weil dann ein Großteil der Menschen geimpft sein wird. Wir wissen, dass deutlich mehr als 80 Prozent der Bürger mindestens zweimal geimpft sein sollten, damit wir diese Pandemie in Deutschland unter Kontrolle bekommen. Das werden wir aber nicht nur anhand der Zahlen der Krankheitslast berechnen können.
Was muss passieren, um eine Impfquote von mindestens 80 Prozent zu erreichen?
WIELER Die Impfbereitschaft ist momentan sehr hoch. Aktuelle Befragungen zeigen, dass sich mehr als 80 Prozent der Menschen impfen lassen wollen. Das ist der Tatsache geschuldet, dass die Menschen sich vor der Krankheit schützen wollen, Impfkampagnen gefahren werden, und zum anderen sich bereits zeigt, wie wirksam die Impfungen sind. Der Covid-19-bedingte gesundheitliche Schaden in der Gesellschaft hat durch die Impfungen stark abgenommen. Aber was wir noch brauchen, sind mehr aufsuchende, niedrigschwellige Impfangebote, gerade für Menschen, die nicht einfach zu erreichen sind oder keinen Hausarzt haben. Wenn die Impfung auch für Kinder empfohlen wird, sollte man auch an Schulen impfen. Wenn die
Menschen nicht zur Impfung kommen, muss die Impfung zu ihnen. Es wird ohnehin so kommen, dass jeder Mensch in Deutschland eine Immunität hat – entweder durch Impfung oder durch eine Infektion.
Halten Sie es für ausgeschlossen, dass es noch einmal schärfere Einschränkungen geben wird?
WIELER Ausschließen kann das seriöserweise niemand. Aber was ich sicher weiß: Wenn wir jetzt vorsichtig bleiben, wenn wir jetzt in geschlossenen Räumen weiter Masken tragen, wenn wir weiter Abstand halten und die Impfungsraten weiter nach oben gehen, dann können wir das vermeiden. Davon bin ich überzeugt. Ich kann nur meine Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass das gemeinsam gelingt.
Einige Bundesländer melden steigende Infektionszahlen mit der Delta-variante. Kommen wir mit den Impfungen dafür schnell genug voran?
WIELER Es ist mittlerweile bekannt, dass die Delta-variante einen höheren R-wert hat als Alpha. Mit zunehmender Immunität in der Bevölkerung durch die Impfungen wächst der Druck auf das Virus, sich genetisch zu verändern und damit auch die Immunantwort zu umgehen. Bisher gibt es keine Hinweise darauf, dass die bisher zugelassenen Impfstoffe nicht gegen Delta wirken. Aber natürlich sind wir beunruhigt, weil ständig neue Varianten entstehen werden. Sie müssen schnell erkannt werden und dann die Kontaktnachverfolgung intensiv betrieben werden. Je niedriger die Inzidenzen sind, desto besser kann das den Gesundheitsämtern gelingen. Die Verbreitung wird aber durch die Basismaßnahmen eingeschränkt: Mund-nasen-schutz und Abstand helfen gegen alle Varianten. Das Ziel muss sein, so schnell wie möglich so viele Impfbereite wie möglich zu impfen.
Wie weit ist Delta in Deutschland aktuell schon verbreitet?
WIELER Wir liegen bei der Delta-variante bundesweit inzwischen bei 15 Prozent. Das heißt, der Anteil hat sich seit dem Bericht vor einer Woche etwa verdoppelt. Die Alpha-variante hat sich entsprechend verringert und liegt nun bei rund 75 Prozent. Wir sehen also die erwartete Zunahme von Delta. Das bestätigt die bisherige Erkenntnis: Es war nie eine Frage, ob der Kreuzungspunkt kommt, an dem Delta die vorherrschende Variante wird, sondern nur wann.
Rechnen Sie mit einer niedrigen Impfbereitschaft unter Kinder und Jugendlichen?
WIELER Die Stiko hat die Impfungen grundsätzlich für alle Kinder freigestellt, aber explizit empfohlen wurde sie nur für Kinder mit Vorerkrankung. Das erhöht natürlich die Impfbereitschaft nicht. Sie hängt aber auch stark vom Infektionsgeschehen ab. Es werden vermehrt Fälle bei Kindern auftreten, schon jetzt sehen wir größere Ausbrüche der Delta-variante in Schulen. Wenn bereits Geimpfte die positiven Wirkungen weitererzählen, wird sich auch dieser kommunikative Effekt niederschlagen. Natürlich ist das Thema sehr emotional. Aber gerade bei Kindern müssen wir die Sicherheitsaspekte gesondert betrachten. Die Stiko wird das weiter beobachten und ihre Empfehlungen kontinuierlich anpassen, wenn die Datenlage über mögliche Nebenwirkungen bei Kindern besser ist.
Müssen an Schulen alle Schutzmaßnahmen weiterhin gelten?
WIELER Ja. Wir empfehlen, dass in Schulen weiter getestet und MundNasen-schutz getragen wird. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, das sollte bis zum nächsten Frühjahr so sein. Aus zwei zentralen Gründen: Zum einen wollen wir ja das Infektionsgeschehen niedrig halten, weil auch Kinder schwer erkranken können. Und zum anderen haben wir natürlich das Ziel, dass die Schulen offen bleiben.
Brauchen wir unterschiedliche Regeln beim Reisen für Geimpfte und Ungeimpfte?
WIELER Für Hochrisikogebiete gelten nach wie vor Quarantäneregeln und bei Virusvarianten-gebieten gibt es noch schärfere Regeln. Innerhalb Europas wäre es schön, wenn es einheitliche Regeln gibt.
Die Reisezeit hat bereits begonnen, die einheitlichen Regeln gibt es aber noch nicht.
WIELER Das sind politische Prozesse. Wir können dazu nur Empfehlungen geben. Ich bin schon glücklich darüber, dass es ein interoperables Impfzertifikat in Form der App gibt. Aber es wäre schön, wenn die Reisetätigkeit nicht zu intensiv wird. Deswegen empfehlen wir weiterhin, auf nicht notwendige Reisen zu verzichten.
Wie wohl ist Ihnen dabei, wenn
Sie Fußballspiele vor Publikum im Stadion sehen?
WIELER Wenn es rein um den Infektionsschutz geht, bin ich darüber natürlich nicht glücklich. Aber das ist eine gesellschaftspolitische Abwägung. Im Münchner Stadion gibt es immerhin ein Hygienekonzept, das den Zugang nur für Geimpfte, Genesene oder Getestete erlaubt und auch die Anreise regelt. Aber wenn ich ein vollständig gefülltes Stadion sehe, dann habe ich dafür nicht viel Verständnis. Reisen von Fans kreuz und quer durch Europa sind für den Infektionsschutz natürlich nicht sinnvoll.
Ist es vertretbar, dass die Abschlussspiele der EM in Großbritannien stattfinden?
WIELER Aus infektionsmedizinischer Sicht ist das keine gute Idee.
Die Pandemie hat Ihnen als Rki-präsident eine besondere Aufmerksamkeit verschafft. Was hat das mit Ihnen gemacht?
WIELER Man braucht eine gewisse Krisenfestigkeit, das ist klar. Aber das Entscheidende ist, dass dieses Institut extrem leistungsstark ist. Die Einschätzungen, die ich mitteile, sind ja durch viele intensive Gespräche, Analysen, Auswertungen von vielen Daten im Haus entstanden. Zu Beginn haben wir uns täglich in unserem Krisenstab über die epidemiologische Lage beraten, inzwischen haben wir das auf zwei Tage pro Woche begrenzt. Aber nach wie vor ist ein großes Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an der Erarbeitung von unseren Erkenntnissen beteiligt. Mit so kompetenten Leuten kann man sich ziemlich sicher sein, dass man die Dinge gut einschätzen kann. Und ansonsten braucht man ein vernünftiges privates Umfeld, gute Freunde und Familie. Jetzt haben wir 18 Monate durchgestanden, den Rest schaffen wir jetzt auch noch.