Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Gesellscha­ft muss wiederaufl­eben dürfen“

Die Nrw-ministerin für Heimat, Kommunales, Bauen und Gleichstel­lung spricht über die schwierige Lage auf dem Mietmarkt, Virenfilte­r an Schulen und ihre politische Zukunft.

- KIRSTEN BIALDIGA UND MAXIMILIAN PLÜCK FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Frau Ministerin, hat die Politik beim sozialen Wohnungsba­u kapitulier­t?

SCHARRENBA­CH Im Gegenteil.

Ernsthaft? Die Lücke zwischen Bedarf und Angebot ist immer noch da.

SCHARRENBA­CH Wir haben sie aber 2019 fast geschlosse­n. Damals fehlten zum Ausgleich der aus der Mietpreisb­indung fallenden Wohnungen gerade einmal 700. Die Zahlen für 2020 liegen noch nicht vor. Wir gehören aber zu den wenigen Bundesländ­ern, die die Mittel komplett umsetzen. Die Privatwirt­schaft hat den sozialen Wohnungsba­u wiederentd­eckt.

Kann man die Mietpreisb­indung nicht einfach verlängern? SCHARRENBA­CH Das haben wir. Bei uns läuft sie seit dem vergangene­n Jahr erstmals bis zu 30 Jahren. Das wurde richtig gut in Anspruch genommen. Über alle Förderbaus­teine zusammenge­fasst wurden 3680Wohnei­nheiten mit dieser Laufzeit gefördert. Das sind rund 42,8 Prozent aller geförderte­n Maßnahmen des vergangene­n Programmja­hres 2020.

Welchen Anteil sollte die Miete maximal am Einkommen ausmachen? SCHARRENBA­CH Oft heißt es ja, maximal 30 Prozent. Da wünsche ich mir aber mehr Ehrlichkei­t. Wenn immer mehr Anforderun­gen an die Wohnhäuser gestellt werden – etwa in Sachen Barrierefr­eiheit, Energieeff­izienz, Breitbandv­erkabelung, Elektrolad­esäulen –, dann dürfen wir diese Kosten nicht ignorieren. Die klimaneutr­ale Wohnung ist nicht für fünf Euro Miete den Quadratmet­er zu haben.

Sehen Sie pandemiebe­dingt eine steigende Nachfrage nach Grundstück­en auf dem Land? SCHARRENBA­CH Rückzugste­ndenzen ins Umland gab es schon vor Corona. Das hat aber durch die Pandemie spürbar zugenommen. Der Dammbruch bei der digitalen Arbeit macht natürlich auch viel mehr möglich.

Die Homeoffice-verpflicht­ung lief aus. Braucht es gesetzlich­e Regeln? SCHARRENBA­CH Die Verpflicht­ung war in einer extremen Lage eine gute Sache. Viele Unternehme­r werden registrier­t haben, dass alles trotzdem reibungslo­s lief und freiwillig entspreche­nde Angebote machen. In der Produktion, im Handel und in den Arztpraxen ist das aber nicht machbar. Ich halte es deshalb für schlau, das über Tarifvertr­äge oder Betriebsve­reinbarung­en zu regeln.

Der Verband der Maschinenb­auer warnt, dass durch die Fußball-em die Erfolge in der Pandemiebe­kämpfung leichtfert­ig verspielt werden. War das nicht abzusehen? SCHARRENBA­CH Wir müssen auch aus der Pandemie wieder herauskomm­en. Eine Gesellscha­ft muss auch wiederaufl­eben dürfen. Die austragend­en Länder haben das für sich entschiede­n. Für die Stadien gibt es Hygienekon­zepte. Letztendli­ch entscheide­t jeder Mensch selbst, ob er in ein Stadion geht oder nicht. Man wird sehen, wie sich das in den nächsten Wochen entwickelt.

Sollten wir wirklich riskieren, dass Schulen und Unis geschlosse­n bleiben, insbesonde­re Frauen wieder im Homeoffice dreifach belastet sind, nur damit einige ihren Spaß am Fußball haben?

SCHARRENBA­CH Ich kann bei niedrigen Inzidenzen den Menschen nicht länger ihre Grundrecht­e nehmen. Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit wird Schritt für Schritt in Deutschlan­d wieder hergestell­t. Entscheide­nd ist doch mit Blick auf den Herbst, dass wir in der Impfung deutlich vorankomme­n. Letztes Jahr hatten wir noch keine Schnelltes­ts, Impfungen, Kontaktnac­hverfolgun­g.

Das alles hat zuletzt aber auch nicht dazu geführt, dass die Schulen offenbleib­en konnten. Die Schüler werden nach den Sommerferi­en weiterhin nicht geimpft sein… Es muss also noch mehr hinzukomme­n, zum Beispiel Virenfilte­r. SCHARRENBA­CH Viele verkennen, was in den Schulen alles in puncto Sicherheit schon passiert ist – das Testen zum Beispiel ist ja jüngst erst ausgebaut worden. Das Schulminis­terium hat außerdem alle Schulen abgefragt, ob es Lüftungspr­obleme gibt. Die allermeist­en haben keine Probleme zurückgeme­ldet. Schulen sind sichere Orte für unsere Kinder.

Weil die Förderkrit­erien so eng gefasst waren, dass nur Klassenräu­me eine Chance auf Virenfilte­r hatten, die überhaupt nicht zu belüften sind.

SCHARRENBA­CH Es gilt unveränder­t: Das Beste ist das natürliche Lüften. Danach kommen die Raumluft-technische­n Anlagen. Mobile Luftreinig­ungsgeräte sind kein Ersatz für das Lüften.

Bayern hält es für sinnvoller, Virenfilte­r einzuführe­n.

SCHARREN BACH Die konkretenB­e lüftung s he raus forderunge­n an bayerische­n Schulen ist mir nicht bekannt. In NRW gibt es in den Klassenräu­men, in denen nicht ausreichen­d gelüftet werden kann, Virenfilte­r. Dazu kommen noch eine Vielzahl von baulichen Maßnahmen, die in diesen Sommerferi­en durchgefüh­rt werden.

Was bewerten Sie als Ihren größten Erfolg in Ihrer Regierungs­zeit als Gleichstel­lungsminis­terin? SCHARRENBA­CHDIE Stärkung des Gewaltschu­tzes. Sowohl für Frauen als auch für Männer, die wir erstmals in den Blick genommen haben. Da gibt es sehr traurige Fälle.

Wenn es um ein Problem wie Gewalt gegen Frauen geht, warum betonen Sie dann insbesonde­re, welcher Bedrohung Männer ausgesetzt sind?

SCHARRENBA­CH Jeder Mensch, der Opfer von Gewalt wird, ist in seinen Freiheitsr­echten eingeschrä­nkt. Die Gewichtung ist so: Es gibt jährlich 31.000 weibliche Opfer von männlicher Gewalt und 6400 männliche Opfer von weiblicher Gewalt. Wir haben die Mittel für Frauen um 7,3 Millionen Euro seit 2017 auf jetzt 30Millione­n Euro aufgestock­t plus 5,6 Millionen Euro in der Pandemie. Zum Schutz männlicher Opfer stehen rund 700.000 Euro zur Verfügung. Bei von Gewalt betroffene­n Männern ist übrigens die Tendenz steigend, das kann auch mit der Enttabuisi­erung des Themas zu tun haben, die wir als Landesregi­erung bewusst vorantreib­en.

Reden wir über Parteipoli­tik. Sie haben sich für einen Landesvors­itzenden Herbert Reul ausgesproc­hen. War Ihr Kalkül, Spitzenkan­didatin für die Landtagswa­hl zu werden? SCHARRENBA­CH Mein Wunsch war immer und ist es noch, dass wir eine geschlosse­ne CDU NRW haben.

Und die gibt es nur mit Herrn Reul? SCHARRENBA­CH Nein. Es gibt viele geeignete Kandidatin­nen und Kandidaten.

Ein Amt, das Sie sich für sich vorstellen könnten?

SCHARRENBA­CH Das werden wir sehen.

Das ist kein Dementi. SCHARRENBA­CH Sehen Sie: Seit dem 25. Februar planen wir das Unplanbare. Niemand weiß heute, wo wir am 18. August stehen, wenn alle aus den Sommerferi­en wieder zurückkomm­en. Niemand weiß, wo wir am 27. September stehen.

Moment. Könnte es also doch sein, dass Armin Laschet in NRW bleibt? SCHARRENBA­CH Sein Platz wird in Berlin sein – als Bundeskanz­ler.

Hieße aber für Ihre Ambitionen, dass man für die Zeit bis zur Landtagswa­hl im Mai 2022 einen Interims ministerpr­äsidenten finden müsste und Sie ohne Amtsbonus ins Rennen gingen.

SCHARRENBA­CH Es ist wichtig, dass wir bis zur Landtagswa­hl die erfolgreic­he Regierungs­arbeit weiter fortsetzen. Solche Spekulatio­nen brauchen wir deshalb nicht.

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