Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Gesellschaft muss wiederaufleben dürfen“
Die Nrw-ministerin für Heimat, Kommunales, Bauen und Gleichstellung spricht über die schwierige Lage auf dem Mietmarkt, Virenfilter an Schulen und ihre politische Zukunft.
Frau Ministerin, hat die Politik beim sozialen Wohnungsbau kapituliert?
SCHARRENBACH Im Gegenteil.
Ernsthaft? Die Lücke zwischen Bedarf und Angebot ist immer noch da.
SCHARRENBACH Wir haben sie aber 2019 fast geschlossen. Damals fehlten zum Ausgleich der aus der Mietpreisbindung fallenden Wohnungen gerade einmal 700. Die Zahlen für 2020 liegen noch nicht vor. Wir gehören aber zu den wenigen Bundesländern, die die Mittel komplett umsetzen. Die Privatwirtschaft hat den sozialen Wohnungsbau wiederentdeckt.
Kann man die Mietpreisbindung nicht einfach verlängern? SCHARRENBACH Das haben wir. Bei uns läuft sie seit dem vergangenen Jahr erstmals bis zu 30 Jahren. Das wurde richtig gut in Anspruch genommen. Über alle Förderbausteine zusammengefasst wurden 3680Wohneinheiten mit dieser Laufzeit gefördert. Das sind rund 42,8 Prozent aller geförderten Maßnahmen des vergangenen Programmjahres 2020.
Welchen Anteil sollte die Miete maximal am Einkommen ausmachen? SCHARRENBACH Oft heißt es ja, maximal 30 Prozent. Da wünsche ich mir aber mehr Ehrlichkeit. Wenn immer mehr Anforderungen an die Wohnhäuser gestellt werden – etwa in Sachen Barrierefreiheit, Energieeffizienz, Breitbandverkabelung, Elektroladesäulen –, dann dürfen wir diese Kosten nicht ignorieren. Die klimaneutrale Wohnung ist nicht für fünf Euro Miete den Quadratmeter zu haben.
Sehen Sie pandemiebedingt eine steigende Nachfrage nach Grundstücken auf dem Land? SCHARRENBACH Rückzugstendenzen ins Umland gab es schon vor Corona. Das hat aber durch die Pandemie spürbar zugenommen. Der Dammbruch bei der digitalen Arbeit macht natürlich auch viel mehr möglich.
Die Homeoffice-verpflichtung lief aus. Braucht es gesetzliche Regeln? SCHARRENBACH Die Verpflichtung war in einer extremen Lage eine gute Sache. Viele Unternehmer werden registriert haben, dass alles trotzdem reibungslos lief und freiwillig entsprechende Angebote machen. In der Produktion, im Handel und in den Arztpraxen ist das aber nicht machbar. Ich halte es deshalb für schlau, das über Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen zu regeln.
Der Verband der Maschinenbauer warnt, dass durch die Fußball-em die Erfolge in der Pandemiebekämpfung leichtfertig verspielt werden. War das nicht abzusehen? SCHARRENBACH Wir müssen auch aus der Pandemie wieder herauskommen. Eine Gesellschaft muss auch wiederaufleben dürfen. Die austragenden Länder haben das für sich entschieden. Für die Stadien gibt es Hygienekonzepte. Letztendlich entscheidet jeder Mensch selbst, ob er in ein Stadion geht oder nicht. Man wird sehen, wie sich das in den nächsten Wochen entwickelt.
Sollten wir wirklich riskieren, dass Schulen und Unis geschlossen bleiben, insbesondere Frauen wieder im Homeoffice dreifach belastet sind, nur damit einige ihren Spaß am Fußball haben?
SCHARRENBACH Ich kann bei niedrigen Inzidenzen den Menschen nicht länger ihre Grundrechte nehmen. Die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit wird Schritt für Schritt in Deutschland wieder hergestellt. Entscheidend ist doch mit Blick auf den Herbst, dass wir in der Impfung deutlich vorankommen. Letztes Jahr hatten wir noch keine Schnelltests, Impfungen, Kontaktnachverfolgung.
Das alles hat zuletzt aber auch nicht dazu geführt, dass die Schulen offenbleiben konnten. Die Schüler werden nach den Sommerferien weiterhin nicht geimpft sein… Es muss also noch mehr hinzukommen, zum Beispiel Virenfilter. SCHARRENBACH Viele verkennen, was in den Schulen alles in puncto Sicherheit schon passiert ist – das Testen zum Beispiel ist ja jüngst erst ausgebaut worden. Das Schulministerium hat außerdem alle Schulen abgefragt, ob es Lüftungsprobleme gibt. Die allermeisten haben keine Probleme zurückgemeldet. Schulen sind sichere Orte für unsere Kinder.
Weil die Förderkriterien so eng gefasst waren, dass nur Klassenräume eine Chance auf Virenfilter hatten, die überhaupt nicht zu belüften sind.
SCHARRENBACH Es gilt unverändert: Das Beste ist das natürliche Lüften. Danach kommen die Raumluft-technischen Anlagen. Mobile Luftreinigungsgeräte sind kein Ersatz für das Lüften.
Bayern hält es für sinnvoller, Virenfilter einzuführen.
SCHARREN BACH Die konkretenBe lüftung s he raus forderungen an bayerischen Schulen ist mir nicht bekannt. In NRW gibt es in den Klassenräumen, in denen nicht ausreichend gelüftet werden kann, Virenfilter. Dazu kommen noch eine Vielzahl von baulichen Maßnahmen, die in diesen Sommerferien durchgeführt werden.
Was bewerten Sie als Ihren größten Erfolg in Ihrer Regierungszeit als Gleichstellungsministerin? SCHARRENBACHDIE Stärkung des Gewaltschutzes. Sowohl für Frauen als auch für Männer, die wir erstmals in den Blick genommen haben. Da gibt es sehr traurige Fälle.
Wenn es um ein Problem wie Gewalt gegen Frauen geht, warum betonen Sie dann insbesondere, welcher Bedrohung Männer ausgesetzt sind?
SCHARRENBACH Jeder Mensch, der Opfer von Gewalt wird, ist in seinen Freiheitsrechten eingeschränkt. Die Gewichtung ist so: Es gibt jährlich 31.000 weibliche Opfer von männlicher Gewalt und 6400 männliche Opfer von weiblicher Gewalt. Wir haben die Mittel für Frauen um 7,3 Millionen Euro seit 2017 auf jetzt 30Millionen Euro aufgestockt plus 5,6 Millionen Euro in der Pandemie. Zum Schutz männlicher Opfer stehen rund 700.000 Euro zur Verfügung. Bei von Gewalt betroffenen Männern ist übrigens die Tendenz steigend, das kann auch mit der Enttabuisierung des Themas zu tun haben, die wir als Landesregierung bewusst vorantreiben.
Reden wir über Parteipolitik. Sie haben sich für einen Landesvorsitzenden Herbert Reul ausgesprochen. War Ihr Kalkül, Spitzenkandidatin für die Landtagswahl zu werden? SCHARRENBACH Mein Wunsch war immer und ist es noch, dass wir eine geschlossene CDU NRW haben.
Und die gibt es nur mit Herrn Reul? SCHARRENBACH Nein. Es gibt viele geeignete Kandidatinnen und Kandidaten.
Ein Amt, das Sie sich für sich vorstellen könnten?
SCHARRENBACH Das werden wir sehen.
Das ist kein Dementi. SCHARRENBACH Sehen Sie: Seit dem 25. Februar planen wir das Unplanbare. Niemand weiß heute, wo wir am 18. August stehen, wenn alle aus den Sommerferien wieder zurückkommen. Niemand weiß, wo wir am 27. September stehen.
Moment. Könnte es also doch sein, dass Armin Laschet in NRW bleibt? SCHARRENBACH Sein Platz wird in Berlin sein – als Bundeskanzler.
Hieße aber für Ihre Ambitionen, dass man für die Zeit bis zur Landtagswahl im Mai 2022 einen Interims ministerpräsidenten finden müsste und Sie ohne Amtsbonus ins Rennen gingen.
SCHARRENBACH Es ist wichtig, dass wir bis zur Landtagswahl die erfolgreiche Regierungsarbeit weiter fortsetzen. Solche Spekulationen brauchen wir deshalb nicht.