Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Flucht vor Hitze und Feuer

Seit Tagen klettern im Westen Kanadas die Temperatur­en bis an die 50-Grad-marke. Hunderte Bewohner müssen wegen heranrücke­nder Waldbrände ihre Häuser verlassen oder haben diese bereits verloren.

- VON JÖRG MICHEL

LYTTON Die Bewohner hatten nur wenige Minuten Zeit, ihre Häuser zu verlassen. „Innerhalb einer Viertelstu­nde waren die Flammen einfach überall“, berichtete der Bürgermeis­ter der kanadische­n Gemeinde Lytton, Jan Polderman. Ein paar Minuten später gab er die Anweisung zur Evakuierun­g. „Die Situation ist furchtbar. Das ganze Dorf steht in Flammen“, sagte er im kanadische­n Fernsehen.

Kurz darauf eilten Polizisten von Haus zu Haus, um die Bewohner vor dem Waldbrand zu warnen. Nur die wenigsten hatten noch die Zeit, wichtiges Hab und Gut einzupacke­n. „Wir wollten nur noch raus, einfach nur noch weg“, berichtete eine Bewohnerin. Schwere Rauchschwa­den zogen über das Dorf, Dachstühle und Autos fingen Feuer. Der nahe Trans-kanada-highway wurde abgesperrt.

Lytton liegt im Tal des Fraser Rivers, etwa vier Autostunde­n von Vancouver entfernt. Seit Tagen schon steht Lytton in den Schlagzeil­en, denn das 300-Einwohner-dorf ist so etwas wie das Epizentrum der Hitzewelle, die den Westen Kanadas seit fünf Tagen fest im Griff hat. 49,6 Grad Celsius waren am Dienstag dort gemessen worden, die höchste Temperatur, die in Kanada je aufgezeich­net wurde.

Es war der dritte Rekord innerhalb dreier Tage. Am Sonntag war das Thermomete­r in Lytton zunächst auf den neuen Landesreko­rd von 46,6 Grad gestiegen, am Montag dann auf 47,9 Grad. Am Dienstag schließlic­h vermeldete der kanadische Wetterdien­st knapp 50 Grad – vier Grad mehr als der bisherige in Kanada gemessene Höchstwert aus dem Jahr 1937. Am Mittwochab­end dann kam das Feuer.

Augenzeuge­n sprachen von „katastroph­alen Zerstörung­en“. Noch ist unklar, ob alle Bewohner das Dorf rechtzeiti­g verlassen konnten. „Es wäre ein Wunder, wenn es alle geschafft haben“, sagte der Bürgermeis­ter. Eine Anwohnerin berichtete im Radio, rund 100 Einwohner seien in einem langen Auto-konvoi in eine nahe Kleinstadt geflüchtet. „Es ist unglaublic­h. Unser Dorf ist nicht mehr.“Die Einsatzkrä­fte versuchten bis spät in die Nacht das Feuer mit Hilfe von Hubschraub­ern zu löschen. Womöglich jedoch wurde das Dorf völlig zerstört.

Insgesamt wüten in British Columbia derzeit rund 30Waldbrän­de, angefacht durch die sengende Hitze und Windböen von bis zu 60 Stundenkil­ometern. Neben den Bewohnern von Lytton mussten auf Anweisung der Behörden auch andernorts Hunderte Menschen ihre Häuser verlassen. Für die nächsten Tage sind Hitze-gewitter vorhergesa­gt, was die Lage weiter verschärfe­n dürfte. Die Rekord-hitzewelle, die sich zuletzt von der Küstenmetr­opole Vancouver ins Landesinne­re der Provinzen British Columbia, Alberta und Saskatchew­an verlagert hatte, dürfte nach Schätzunge­n der Regierung bislang zu mehreren Hundert Todesfälle­n beigetrage­n haben. In den letzten fünf Tagen sind allein in British Columbia laut Gerichtsme­dizinern 486 plötzliche

Todesfälle gemeldet worden. Laut der obersten Gerichtsme­dizinerin der Provinz, Lisa Lapointe, sind das rund 300 mehr als üblich für einen solchen Zeitraum. Die Behörde geht davon aus, dass der starke Anstieg mit der extremen Hitze zusammenhä­ngt. Viele der Todesopfer hätten allein gelebt und sich in schlecht belüfteten und nicht gekühlten Räumen aufgehalte­n, bei den meisten haben es sich um Senioren gehandelt, so Lapointe.

In vielen Gemeinden wurden in

Kirchen, Schwimmbäd­ern, Garagen oder Bibliothek­en Kühlungsrä­ume eingericht­et, in denen Menschen Zuflucht vor der Hitze finden können. Viele Bewohner von British Columbia haben in ihren Häusern keine Klimaanlag­en, denn die Region gilt insbesonde­re im Küstenbere­ich als gemäßigt. Temperatur­en von über 30 Grad im Sommer sind dort außergewöh­nlich. In großen Städten sind Klimagerät­e seit Tagen ausverkauf­t. In Vancouver wurden Brunnen und Sprinklera­nlagen laufen gelassen, in Calgary stehen Tankwagen mit Trinkwasse­r bereit.

Das Ausmaß der Hitzewelle habe ihn schockiert, sagte der Klimaforsc­her Simon Donner von der Universitä­t von British Columbia, dem Sender CBC. „Als Wissenscha­ftler rechnen wir mit mehr extremen Wettererei­gnissen, denn die Treibhausg­ase in der Atmosphäre nehmen weiter zu“, meinte Donner. „Dass die derzeitige Welle aber so intensiv ist und so lange andauert, ist in Kanada ohne Beispiel.“

 ?? FOTO: BC WILDFIRE SERVICE/AFP ?? Eine Luftaufnah­me des wütenden Feuers am Fluss im kanadische­n British Columbia.
FOTO: BC WILDFIRE SERVICE/AFP Eine Luftaufnah­me des wütenden Feuers am Fluss im kanadische­n British Columbia.

Newspapers in German

Newspapers from Germany