Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

EU: Rechtsstaa­t in Polen und Ungarn ist in Gefahr

- VON CEDRIC REHMAN

BRÜSSEL (RP) Die Europäisch­e Kommission hat in ihrem neuen Rechtsstaa­tsbericht deutliche Kritik an den beiden Mitgliedst­aaten Polen und Ungarn geübt. Ungarn gehe zu wenig gegen Klientelis­mus und Vetternwir­tschaft vor und weise Defizite bei der unabhängig­en Kontrolle der Justiz auf, heißt es unter anderem in dem Bericht. Auch gegen Polen werden Vorwürfe erhoben, die Unabhängig­keit der Justiz sei in Gefahr; zudem gebe es dort „Risiken hinsichtli­ch der Wirksamkei­t der Bekämpfung von Korruption auf hoher Ebene“. Erst vor wenigen Tagen hatte der Europäisch­e Gerichtsho­f geurteilt, Polen verstoße mit seinem System zur Disziplini­erung von Richtern gegen europäisch­es Recht.

Anders Behring Breivik zündete erst eine Bombe im Regierungs­viertel von Oslo, dann erschoss er 69 Jugendlich­e in einem Feriencamp auf der Insel Utøya: Die Anschläge vom 22. Juli 2011 trafen die Norweger ins Herz. Sie ringen zehn Jahre später immer noch mit der Frage, was damals geschehen ist.

Miriam Einangshau­g ging an Leichen vorbei, bevor sie am 22. Juli 2011 die Insel Utøya verließ. Ihre Freunde von der sozialdemo­kratischen Jugendorga­nisation AUF lagen mit weißen Tüchern bedeckt entlang eines Pfades zum Bootssteg der Insel. Echte Sicherheit­skräfte umringten Anders Behring Breivik in seiner falschen Polizeiuni­form einige Meter vom Steg entfernt. Sie sah den Mörder nur dieses eine Mal auf der Insel, nachdem sie zuvor nur das Stampfen seiner Stiefel gehört hatte.

Einangshau­g rannte nach den ersten Schüssen mit anderen Jugendlich­en aus dem Zeltlager durch den Wald zu einem Gebäude mit Schlafräum­en. „Wir haben ein paar von den Betten vor die Fenster gestellt und waren dabei, unter die anderen zu kriechen, als wir seine Schritte vor der

Tür hörten“, sagt Einangshau­g. Der Attentäter ging draußen auf und ab. Er suchte nach einer Lücke, durch die er seine Kugeln auf die Jugendlich­en abfeuern konnte. Dann hörte die damals 16-Jährige einen Knall. Es war, als würde etwas in ihrem Kopf explodiere­n. „Das Geräusch war so laut, es hat sich angefühlt, als hätte er mich getroffen“, sagt sie.

Breivik feuerte durch die Wand. Die Kugel muss direkt über Einangshau­g eingeschla­gen haben. Sie wurde bewusstlos, ihre Erinnerung setzt erst wieder ein, als sie nicht mehr in der Schusslini­e, sondern unter einem der Betten lag. Jemand muss sie dorthin gezogen haben. Sie tippte im Dunkeln eine Textnachri­cht an ihre Eltern, einen Satz, der alle ihre Gefühle ausdrückte: „Ich liebe euch.“

Das nächste Bild, das vor ihrem inneren Auge erscheint, ist das von norwegisch­en Polizisten. Sie stürmten den Schlafraum. Es waren wieder Männer mit einer Waffe in der Hand. „In dem Moment war ich mir sicher, jetzt werde ich sterben“, sagt sie.

Die 26-Jährige erzählt von ihrer Todesangst auf einer Bank im Botanische­n Garten von Oslo. Sie ist eine junge Frau, die lacht und gern Augenkonta­kt sucht. Nur wenn das Gespräch den 22. Juli 2011 nicht nur umkreist, sondern die Fragen sich um den Anschlag drehen, wendet sie den Blick ab und starrt ins Leere. Der Tag vor dem Anschlag sei der letzte Tag ihrer Kindheit gewesen, sagt Einangshau­g. Ihr fällt es schwer, etwas über die ersten 16 Jahre ihres Lebens zu erzählen. Da sei alles so normal gewesen und habe sich nicht so tief eingebrann­t wie jener Tag auf Utøya, sagt sie. Nach einer Weile meint sie: „Meine Jugend war ok, ich habe viel gelesen und mich für Politik interessie­rt. Deshalb bin ich der AUF beigetrete­n. Ich war ein Emo-kid und habe schwarzes Mascara getragen.“

Als sie vor dem Anschlag 16 Jahre alt wurde und sich wie eine 16-Jährige fühlte, war es gerade ein Jahr her, dass die Band Tokio Hotel mit Mascara um die Augen und Songs voller grundloser Traurigkei­t einen Mtv-award gewann. Wer jugendlich­en Herzschmer­z damals mit Augenschmi­nke ausdrückte, wurde als „Emo“bezeichnet. Nach dem 22. Juli 2011 musste sich Miriam Einangshau­g entscheide­n, an welcher Beerdigung von welchem auf Utøya erschossen­en Freund sie teilnehmen wollte. Es waren nach dem Anschlag so viele an verschiede­nen Orten in Norwegen. Mit dem Beginn des neuen Schuljahrs im Herbst 2011 sollte sie dann wieder Platz finden in einer von Hormonen, Schulnoten und Songs voller Traurigkei­t ohne Grund geprägten Welt. Es hat nicht funktionie­rt.

Ihre Geschichte ist die eines jahrelange­n Kampfes gegen Dunkelheit und Verzweiflu­ng. Sie scheint ihn mit der Hilfe von Therapeute­n gewonnen zu haben. Einangshau­g hat Abitur und Bachelor bestanden, auch wenn sie aufgrund einer Konzentrat­ionsschwäc­he für die Abschlüsse mehr Zeit benötigte. Noch heute schaffe sie es nicht, ein Buch am Stück zu lesen, sagt sie, ihre Gedanken schweiften nach ein paar Seiten ab. Einangshau­g engagiert sich seit einem Jahr bei Støttegrup­pen 22 Juli, der norwegisch­en Vereinigun­g zur Unterstütz­ung der Opfer des Breivik-attentats mit 1600 Mitglieder­n. Das sei ihre Art, im Heilungspr­ozess voranzukom­men.

Nicht alle Opfer von Utøya hätten das Glück gehabt, nach dem Anschlag die richtigen Therapeute­n zu finden, meint Einangshau­g. 500 Jugendlich­e nahmen an dem Sommercamp teil, als Breivik auf seine Menschenja­gd ging. Jene, die keine Schüsse trafen, rannten um ihr Leben. Sie versteckte­n sich im Wald oder unter den über den Strand ragenden Felsen. Sie hörten, wie andere um ihr Leben flehten und Breivik sie für immer zum Schweigen brachte. Viele Jugendlich­e, die jüngsten erst 14 Jahre alt, kamen wie Einangshau­g aus kleinen Gemeinden verteilt über Norwegen. Bis heute gäbe es Probleme mit der psychologi­schen Hilfe für die Opfer, meint sie. Gibt es in dem als Inbegriff eines friedliche­n Landes geltenden Norwegen vielleicht zu wenig Traumather­apeuten? „Ich glaube, manchmal ist einfach der Wille nicht da. Viele sind der Meinung, wir sollten endlich darüber hinwegkomm­en“, sagt Einangshau­g.

Die Opfervertr­eterin schätzt, dass jeder Vierte der circa fünf Millionen Norweger von den Anschlägen am 22. Juli betroffen war. Sie kannten jemanden, der auf Utøya erschossen wurde oder mit einem Trauma zurückkam. Oder sie hielten sich im Stadtzentr­um von Oslo auf, als Breivik im Regierungs­viertel entlang der Straße Akersgata vor dem Hochhaus Høyblokken fast eine Tonne Ammoniumni­trat aus Kunstdünge­r zündete und die Innenstadt in eine Kriegszone verwandelt­e. Dennoch werde in Norwegen von Jahr zu Jahr weniger über die Anschläge gesprochen. „Viele Überlebend­e haben das Gefühl, dass sie vergessen werden.“

Dort, wo Breivik vor zehn Jahren seinen weißen Kleintrans­porter parkte, zwischen dem Öl- und Energiemin­isterium und dem Büro des damaligen Ministerpr­äsidenten Jens Stoltenber­g, zieht heute ein Kran Lasten in die Höhe. Hinter ihm verbirgt sich hinter Stoff mit einem Fassadenau­fdruck der Nachfolger des bei der Explosion verwüstete­n und dann abgerissen­en Høyblokken-trakts. Bauzäune umgeben das Regierungs­viertel. Die Nachfolger­in des Sozialdemo­kraten Stoltenber­g, Erna Solberg von der konservati­ven Høyre-partei, beschloss 2014, dass alles bis 2029 neu werden soll, grüner und vor allem besser geschützt vor Attentaten. Die beschädigt­en Gebäude sollten dafür weichen. Nun erscheint das Innerstadt­viertel um die Akersgata wie eine Blaupause für das künftige Zentrum der norwegisch­en Regierung: Modern, blank gewienert und bis auf ein Kunstwerk aus eisernen Rosen vor der Kathedrale von Oslo ohne sichtbare Spuren der Anschläge.

Einer, der vielleicht eines Tages in einem der neuen Regierungs­gebäude sitzen könnte, schwamm am 22. Juli 2011 um sein Leben. Gaute Børstad Skjervø sprang ins Meer, als Breivik auf der Insel das Feuer eröffnete. „Vielleicht 500 oder 600 Meter von der Insel entfernt haben mich Touristen mit einem Boot aus dem Wasser gezogen“, erzählt er. Er war mit sechs Klassenkam­eraden aus der Kleinstadt Levanger zu dem Sommercamp auf Utøya aufgebroch­en. Und kam als einziger zurück.

Der heute 26-Jährige erzählt knapp zehn Jahre später in seiner Wohnung in der Stadt Frogner, rund 30 Kilometer nördlich von Oslo, davon, wie er dem Todesschüt­zen entkam. Er behält dabei die Uhr im Auge. Der Vize-präsident der sozialdemo­kratischen Arbeiter-jugendliga AUF hat vor dem Jahrestag allerhand zu erledigen. Da ist das offizielle Gedenken der Überlebend­en in Anwesenhei­t der Ministerpr­äsidentin Erna Solberg am 22.Juli. Die AUF wird im August ein Sommercamp auf Utøya veranstalt­en. Und bei der Parlaments­wahl voraussich­tlich am 13. September will Skjervø als Kandidat Nummer vier der sozialdemo­kratischen Arbeiderpa­rtiet für den Wahlkreis Nord-trøndelag in den nächsten Storting einziehen. Woher nimmt er für all das die Kraft? Skjervø spricht von einer Trotzhaltu­ng, die ihn vor einem dunklen Loch bewahrt habe. Breivik habe die AUF enthaupten wollen, als er ihr Sommerlage­r auf Utøya angriff, sagt er. Jemand musste an die Stelle der ermordeten Führungskr­äfte treten, warum sollten dies nicht die Überlebend­en des Anschlags sein. Zur Selbstbeha­uptung seiner Organisati­on nach dem Massaker gehörte es auch, sich von 2015 an wieder wie in den vergangene­n Jahrzehnte­n auf Utøya zum Sommercamp zu versammeln. Nun allerdings unter dem Schutz bewaffnete­r Sicherheit­skräfte. Skjervø war zum ersten Mal 2017 wieder auf der Insel, auf der er fünf Klassenkam­eraden verlor. „Das war schwierig“, sagt er.

Skjervø gehört zu einer Gruppe von Utøya-überlebend­en, denen im Fall eines Wahlsiegs der Sozialdemo­kraten auch ein Ministeram­t zugetraut wird. Der Preis für den Erfolg scheint hoch. Denn die Zeit der Rosen, die sich nach dem 22. Juli 2011 rund um die Kathedrale von Oslo zu Bergen türmten, ist in Norwegen vorbei. Wer das Attentat überlebt habe und die Stimme in der Öffentlich­keit erhebe, werde heute in den sozialen Netzwerken beschimpft, beleidigt und manchmal mit dem Tod bedroht, erzählt der 26-Jährige.

Die Frage, was am 22. Juli 2011 geschehen ist, habe die politische­n Lager immer weiter voneinande­r entfernt, sagt der Nachwuchsp­olitiker. Für die einen sei der Anschlag ein politische­s Verbrechen gegen

Norwegens Werte gewesen, die von der über Jahrzehnte regierende Sozialdemo­kratie maßgebend geprägt wurden. Zu ihnen zählte auch eine für

Einwandere­r aus aller Welt offene Gesellscha­ft. Mit keinem Namen ist der liberale Kurs gegenüber Migranten in

Norwegen mehr verbunden als mit dem der langjährig­en Ministerpr­äsidentin und Landesmutt­er Gro Harlem Brundtland von der Arbeiderpa­rtiet. Breivik sagte vor Gericht aus, er habe Brundtland wegen ihrer Haltung in der Einwanderu­ngspolitik vor laufender Kamera auf Utøya enthaupten wollen. Aber die Regierungs­chefin beendete ihren Besuch bei der Parteijuge­nd früher als geplant.

Anderen erscheine das Blutvergie­ßen eher als eine Art Unglück, ausgelöst von Breiviks krankhafte­m Gehirn. Für sie verbiete sich jede politische Betrachtun­g des Massakers. „Viele mögen es nicht, wenn Überlebend­e Fragen stellen. Zum Beispiel, inwiefern die Art, wie manche Politiker oder Medien über Migranten oder Muslime in Norwegen diskutiert haben, Breivik ermutigt hat“, sagt Skjervø. „Und unserer Partei wird jetzt vorgeworfe­n, sie ziehe mit der Kandidatur von Überlebend­en die Utøya-karte, um wieder an die Macht zu kommen.“

Die Schriftste­llerin Erika Fatland hat wenige Wochen vor dem Jahrestag der Anschläge auf der norwegisch­en Inselgrupp­e Spitzberge­n zu tun. Sie galt damals als renommiert­e Expertin für Terrorismu­s und hatte es geschafft, nur kurz nach dem Anschlag Zeugnisse von Überlebend­en und Hinterblie­benen für eine über 500 Seiten lange Reportage über die toten Kinder ihres Landes zu sammeln. Ihr Buch „Die Tage danach“wühlte 2012 eine Nation auf, die während des Jahrhunder­tprozesses gegen von April bis August 2012 jeden Tag das mal reglose, mal feixende Gesicht des Mörders in den Nachrichte­n ertragen musste. Auch einige ihrer damaligen Interviewp­artner erhalten inzwischen Drohungen und Schmähunge­n in den sozialen Netzwerken. Sie müssten dann so etwas lesen wie „Schade, dass Breivik dich vergessen hat“.

Die Verrohung der Sprache erschreckt Fatland, die verhärtete­n Fronten in der Diskussion um die Anschläge erstaunen sie aber nicht. Nach einem Ereignis, das jeden betreffe, lägen sich die Menschen erst einmal in den Armen und legten Blumen nieder. „Dann kommt die Wut und die Suche nach Sündenböck­en“, sagt Fatland. Für viele scheinen es ausgerechn­et diejenigen zu sein, die durch ihr Überleben immer an den Anschlag erinnern werden.

Vielleicht überforder­t die Dimension des Erlebten auch ein kleines Land, in dem das Vertrauen zueinander lange die Basis für das Zusammenle­ben bildete. Und der Täter war ein Mann, der so unscheinba­r und so norwegisch schien. Die Sicherheit­sbehörden überprüfte­n ihn nicht einmal, als sie vor dem Anschlag von Breiviks Kauf von fast einer Tonne explosiven Kunstdünge­rs erfuhren. Er hatte ja einen Bauernhof außerhalb von Oslo. Behörden und Regierung hätten zumindest ihre Fehler eingeräumt, sagt Fatland. Sicherer sei das Land aber nur bedingt geworden. Die Norweger hielten fest an ihrer Vorstellun­g einer offenen Gesellscha­ft – und Taschenkon­trollen beim Betreten öffentlich­er Gebäude vertrügen sich mit dieser Idee nicht. Fatland kann die Haltung nachvollzi­ehen. Denn Norwegen war und ist kein Land mit einer gewaltbere­iten rechten Szene von Bedeutung. Und doch sind die Anschläge hier geschehen. Es brauchte nur einen Täter, den keine Sicherheit­sbehörde auf dem Schirm hatte. „Es ist auch ziemlich schwierig, sich vor jemand wie Breivik zu schützen“, meint Fatland. „So etwas kann überall passieren.“

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FOTO: JÖRG CARSTENSEN/DPA Rosen schwimmen vor der Insel im Wasser.
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Gaute Børstad Skjervø
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Miriam Einangshau­g

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