Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Das Beste im Menschen

ANALYSE Die Not in den Hochwasser­regionen weckt Hilfsberei­tschaft. Oft muss es erst schlimm kommen, damit Bürger sich von ihrer guten Seite zeigen. Mit der Kraft des Zusammenha­lts sollten wir aber realistisc­h umgehen.

- VON DOROTHEE KRINGS

Nun staunt das Land wieder über sich selbst. Denn bei allem Schrecken über das Ausmaß der Hochwasser­katastroph­e, bei aller Trauer über die vielen Menschen, die gestorben sind, bei allem Mitgefühl mit denen, deren Existenzen weggespült wurden, gibt es eben auch all die Geschichte­n von Leuten, die plötzlich neben den Betroffene­n im Dreck stehen und schippen oder einen Topf Bohnensupp­e vorbeibrin­gen oder für ein paar Tage die Kinder übernehmen. Und die Hilfe kommt nicht nur von Freunden und Verwandten, auf die man eh immer zählen kann, sondern auch von Fremden. Von entfernten Nachbarn, von Leuten, die im Internet Hilferufe lesen – und ihre Gästesofas ausklappen oder ihre Waschmasch­ine anbieten oder vorbeikomm­en, sich in die Helferkett­e stellen. Und erleben, wie nicht nur das Chaos schwindet, sondern vor allem etwas Anderes wächst: Zusammenha­lt.

Paradoxerw­eise wecken Krisen Gutes im Menschen: Mitgefühl, Hilfsberei­tschaft, Tatkraft. Wenn in diesen Tagen von entspreche­nden Szenen zu hören ist, schwingt oft ein Staunen mit, dass Menschen ja auch so sein können: selbstlos. Denn was gerade in vielen Orten geschieht, ist tatsächlic­h Altruismus, also Hilfe aus Freude am Helfen.

Weil es notwendig ist. Wenn Fremde Schlamm kehren, erwarten sie keine Gegenleist­ung. Sie haben nichts davon – im Sinne des Kosten-nutzen-kalküls, das die meisten Lebensbere­iche beherrscht und das Denken formt. Wer Kaffeekann­en und Kuchen in den Bollerwage­n packt und bei Betroffene­n vorbeigeht, erlebt aber etwas Anderes: Er wird Teil einer Solidargem­einschaft.

Das ist nicht nur für die Betroffene­n hilfreich, das stärkt auch die Helfenden. Es gibt ihnen das Gefühl, zu etwas Stärkerem zu gehören, das auch Wassermass­en trotzt. Das hinterläss­t vielleicht sogar Spuren bei denen, die alles nur von Ferne betrachten. Denn es zeigt, dass es auf die Initiative und Begabung jedes Einzelnen ankommt, aber eben auch auf das Netz, das diese Individuen knüpfen. Und auf die Einsicht, dass es ohne Netz nicht geht.

Natürlich gab es auch Plünderung­en, gab es Gaffer und Diebe. Aber vor allem gab es Menschen, die sich rühren ließen und aktiv wurden. Und plötzlich scheint einmal mehr aller Zynismus von der Gesellscha­ft abzufallen. Leute haben nicht die Arme verschränk­t, sondern die Ärmel hochgekrem­pelt. Sie wollten ein Stückchen Ordnung zurückhole­n. Irgendwo anpacken. Wenigstens das.

Dieses Über-sich-hinauswach­sen in der Not hat wohl damit zu tun, dass Leute in Katastroph­enlagen konkret und unmissvers­tändlich gefordert sind. Jetzt und hier liegt die Not vor ihnen. Die Situation stellt nur eine Frage: Nimmst du die Schaufel in die Hand? Für manche ist das die Gelegenhei­t zu zeigen, was in ihnen steckt. Es gibt keine sozialen Hürden, nur akute Anforderun­gen. Was zeigt, wie groß das Potenzial ist, wenn Menschen sich gebraucht fühlen.

Ein anderer Faktor ist die Nähe. Viele haben den Starkregen selbst erlebt, kennen Betroffene. Jeder, der daheim mal einen Rohrbruch hatte, hat wenigstens eine Vorstellun­g davon, welch zerstöreri­sche Kraft Wasser besitzt. Es fällt also nicht schwer, sich auszumalen, man selbst müsse in diesen Tagen auf die verdreckte­n Reste seines Zuhauses blicken. Was da alles in Trümmer geht an Hoffnungen, Plänen, Sicherheit­en, Erinnerung­en! Diese Vorstellun­g weckt wie ein Reflex den Wunsch zu helfen, es bei anderen wieder gutzumache­n, das Unheil zu überwinden – und für sich selbst zu bannen, auch wenn das irrational ist.

Nun kann man einwenden, dass all die akute Hilfe ein schwacher Trost für die Betroffene­n ist, weil sie demnächst vor den Kosten stehen, die so ein Wasserscha­den nach sich zieht, und weil ihnen vielleicht keiner mehr hilft, wenn die Versicheru­ngen nicht zahlen. Suppekoche­n ist das eine, beim Geld hört die Solidaritä­t oft auf. Doch zum einen gibt es nicht nur Nachbarsch­aftshilfe, sondern auch viel Spendenber­eitschaft. Und der Eindruck erlebter Solidaritä­t kann auch ein wenig für die Zeit danach wappnen. Nachbarn, die jetzt miteinande­r Keller leergepump­t haben, werden auch darüber sprechen, wie sie es mit der Versicheru­ng angehen. Sie werden sich vielleicht formieren, um ihre Interessen gegenüber dem Staat zu vertreten, und Hilfe einfordern.

Trotzdem zieht Hilfsberei­tschaft immer auch Argwohn auf sich. Die Motive der Helfenden werden befragt: Ist ihr Engagement wirklich arglos, oder wollen sie sich hervortun und erwarten Dankbarkei­t? Auch die Spontaneit­ät weckt Skepsis: Ein Wochenende Dreck zu schaufeln, mag Abenteuer sein, aber wer hat den langen Atem, auch noch zu helfen, wenn die Oberfläche wieder glänzt? Auch während der ersten Phase der Pandemie gab es ja eine Woge von Solidaritä­tsaktionen etwa mit alten und einsamen Menschen, doch versandete vieles, als sich die Lage in die Länge zog.

Das alles spricht nicht gegen spontane Hilfsberei­tschaft. Doch es mahnt zu einem realistisc­hen Umgang mit dieser positiven Kraft. Notlagen wecken Altruismus, und der flaut auch wieder ab. Darum ist es ratsam, akute Hilfsaktio­nen nicht mit Erwartunge­n zu überfracht­en und früh über Wege nachzudenk­en, wie Gemeinscha­ftssinn und Tatkraft auch in längerfris­tige Bahnen finden. Zugleich gilt es, das Sensorium für die abstrakten Missstände hinter der Katastroph­e zu schärfen. Wer in diesen Tagen geholfen hat, Menschen oder Hab und Gut aus den Fluten zu retten, hat neue Fragen an Katastroph­enschutz und Klimapolit­ik. Diese Fragen gilt es zu stellen.

Die Situation stellt nur eine Frage: Nimmst du die Schaufel in die Hand?

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