Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
BERLINER REPUBLIK Im Wahlkampf der vielen Krisen
Erst schienen Kleinigkeiten wichtig, jetzt rücken historische Krisen in den Fokus.
Was für ein Wahlkampf! Da geriet die Republik zunächst in Aufruhr, weil eine der Öffentlichkeit bis dahin wenig bekannte Annalena Baerbock die erste Kanzlerkandidatin der Grünen wurde und dann herauskam, dass sie ihren Lebenslauf etwas aufpoliert hatte und ihr Buch abgeschriebene Passagen enthielt. Wohlgemerkt: ein Buch, das sie veröffentlicht hatte, um ihr im Wahlkampf zu helfen, sie bekannter zu machen, ihr ein Profil zu geben. Das ging mächtig nach hinten los. Doch dann kam die Flut und mit ihr eine nie dagewesene Krise als direkte Folge des Klimawandels. Unvorstellbares menschliches Leid, das Unions-kanzlerkandidat Armin Laschet nicht mit einem Lächeln im Bildhintergrund kommentierte. Und doch entstand durch diesen schweren Fehler der öffentliche Eindruck eines feixenden Ministerpräsidenten – und nicht der eines hemdsärmeligen Machers in der Not.
Und jetzt? Jetzt lösen die Bilder aus Afghanistan mindestens in allen westlichen Staaten Entsetzen aus. Die Bundesregierung kommt in Erklärungsnöte, warum sie das nicht hat kommen sehen. Warum sie nicht früher handelte, zu lange so eiskalt gegenüber den früheren Verbündeten und Helfern war. Auch die Grünen suchen noch nach einer Antwort, bilden jetzt die Spitze einer Gruppe, die möglichst viele bedrohte Menschen aus dem Land holen will. Wahlkampfstrategen, deren Aufgabe ein Erfolg ihrer Auftraggeber am 26. September ist, haben auf einmal mit einem Wahlkampf der vielen Krisen zu tun. Klima, Flut, Afghanistan – dabei gerät die historische Corona-krise schon beinahe in den Hintergrund der Wahlkämpfer. Nur selten sagen Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz, wie sie eigentlich den Wohlstand des Landes auf mittlere und lange Sicht sichern wollen angesichts eines Wettkampfs der zwei Weltmächte USA und China und einer Verschuldung von rund 400 Milliarden (!) Euro im kommenden Jahr. Eins bringt dieser verrückte Wahlkampf aber mit sich: Er ist ein Härtetest für alle drei.
Unser Autor ist stellvertretender Leiter des Berliner Parlamentsbüros. Er wechselt sich hier mit unserer Bürochefin Kerstin Münstermann und Elisabeth Niejahr, der Geschäftsführerin der Hertie-stiftung, ab.