Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Heimspiel auf Distanz
Annalena Baerbock und einer ihrer wichtigsten Förderer besuchen im Wahlkampf die polnische Grenze.
BERLIN Kabul ist plötzlich ganz nah. Eigentlich wollen Annalena Baerbock und Joschka Fischer im Wahlkampf glänzen. Die erste Kanzlerkandidatin der Grünen und einer ihrer wichtigsten Berater und Förderer. Der zuletzt etwas schwächelnden Kampagne wollen sie neuen Schwung verleihen. Baerbock und Fischer am Ufer der Oder, Blick entlang der blauen Stadtbrücke hinüber nach Polen. Hier ist Europa greifbar, eng verwoben, das deutsche Frankfurt und das polnische Slubice auf der anderen Seite teilen sich eine Wärmeversorgung, wie Baerbock sagt.
Doch die Lage in Afghanistan überschattet diesen Termin, bei dem es über die Europapolitik der Kanzlerkandidatin gehen soll. „Wir als Europäer haben eine gemeinsame Verantwortung. Es geht jetzt vor allen Dingen darum, die Menschen sofort herauszuholen, die mit dem Tod bedroht sind, weil sie eben mit Nato-kräften zusammengearbeitet haben“, sagt Baerbock und fordert die Aufnahme von 10.000 Ortskräften. Sie wirft dem von Heiko Maas (SPD) geführten Auswärtigen Amt vor, die Augen vor der Realität verschlossen zu haben, wenn seit Wochen vor dramatischen Situationen gewarnt worden sei.
Auch Fischer übt Kritik: „Die sehr frühe Umorientierung auf Irak war ohne jeden Zweifel ein großer Fehler“, sagt Fischer.„ich hätte nicht damit gerechnet, dass es zu einer solch überstürzten Abzugsentscheidung kommt und insofern, dass nicht verhandelt wurde über die Bedingungen des Abzugs. Die Konsequenzen sehen wir heute.“Der Einsatz sei nach dem 11. September 2001 eine zwingende Notwendigkeit gewesen. „Die USA waren der wichtigste Sicherheitsgarant, und da war Solidarität angesagt. Insofern stehe ich zu diesem Einsatz“, sagte Fischer.
Baerbock verweist auf einen Antrag der Grünen im Bundestag kurz vor der Sommerpause, der bereits eine Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan forderte. Die Regierungskoalitionen von Union und SPD lehnten nach geübter Manier den Oppositionsantrag ab, jetzt fällt ihnen das auf die Füße. Baerbock und Fischer sind am Brückengeländer von Kamerateams und Journalisten umzingelt, mit Passanten, die zu Fuß zwischen Deutschland und Polen hin und her die Brücke queren, kommen sie nicht ins Gespräch. Sie suchen es auch nicht.
Auch dann nicht, als sie kurz darauf im Stadtzentrum auf der Bühne sitzen und mit einer Frankfurter Wissenschaftlerin über die Europapolitik der Grünen diskutieren. Welche Erwartungen und Hoffnungen seit dem Eu-beitritt Polens, den Fischer damals im Mai 2004 auf der Brücke gefeiert hatte (Baerbock war auch da, sie kannten sich beide aber noch nicht), sich nicht so richtig erfüllt haben mit der europäischen Integration? Baerbock stutzt, sie will lieber über die Erfolge reden. Stichwort gemeinsame Wärmeversorgung. Ihr fällt ein, dass es mal die Überlegung gab, eine Straßenbahnlinie über die Brücke fahren zu lassen. Bislang ist das Queren nur zu Fuß, mit dem Rad, Auto oder Bus möglich. Und das sei doch schön, wenn es das noch geben würde künftig, sagt sie vor coronabedingt ausgedünnten Reihen. Das Publikum freut sich, erster Applaus.
Joschka Fischer steigt hingegen höher ein. „Die größte Enttäuschung war, dass die Europäische Union die
Osterweiterung nicht wirklich genutzt hat, um noch weiter zusammenzuwachsen“, sagt er. Das habe aber nicht an den neuen Mitgliedstaaten gelegen, die Verfassung sei damals in Frankreich bei der Volksabstimmung gescheitert, so Fischer. Er ist im Thema, kommt nach einer halben Stunde gut in Fahrt. Auch wenn er äußerlich etwas gealtert ist, sitzt da auf der Bühne in Jeans, Hemd und Sakko noch der international bekannte Fischer. Europa, das spürt man, ist ihm ein Herzensanliegen, er wirkt in seinen Ausführungen leidenschaftler als Baerbock.
Die Völkerrechtlerin mit Erfahrung als Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa der Grünen ist aber ebenfalls in ihrem Element. Die Krise habe doch zuletzt gezeigt, was Grenzschließungen bedeuten würden und was den Menschen dann wieder fehlte, so Baerbock. Sie will Europa vertiefen, die Beziehungen stabilisieren. Macht aber auch klar, dass es bei Verstößen gegen die europäischen Prinzipen Sanktionen geben müsste – etwa gegen Ungarn. Fischer widerspricht nicht, weist aber auf historische Traumata vieler europäischer Nationen hin. Die müsse man mitdenken, ohne sie als Entschuldigung für Verstöße gegen Eu-recht durchgehen zu lassen, betont er. Und er fordert ein Ende des Einstimmigkeitsprinzips in der europäischen Außenpolitik. Baerbock nickt.
Zwei Stühle, eine Meinung? Ja, was anderes war von dem Format an diesem Nachmittag in Frankfurt/ Oder nicht zu erwarten. Schließlich kann Baerbock starke Wahlkampfhilfe gut gebrauchen.