Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Der nette kleine Bruder
Nach den kontroversesten Olympischen Spielen der Geschichte stehen Japan in einer Woche die Paralympics ins Haus. Diese Spiele gelten vielen als sympathischer und sozial bedeutender. Können sie einige Wogen glätten?
TOKIO „Die Olympischen Spiele“, sagt Azusa Yokota ohne zu zögern, „haben mich nicht interessiert. Im Fernsehen liefen die ganze Zeit Wettbewerbe, deshalb wusste ich mehr oder weniger Bescheid. Aber eigentlich wollte ich mich dem entziehen.“Von Anfang an war die 35-jährige Lehrerin aus Tokio gegen die Spiele in ihrem Wohnort. Und als die Pandemie begann, sich an den Olympiaplänen aber nichts ändern sollte, wollte sie erst recht die Absage. Wie rund 80 Prozent der japanischen Bevölkerung fand Yokota Olympia in Tokio nicht mehr nur zu teuer, sondern auch zu gefährlich.
Geht es aber um die Paralympischen Spiele, hat sie eine andere Meinung. „Auf die freue ich mich schon!“, sagt Yokota plötzlich mit Freude in der Stimme. Während der Schulzeit in ihrer Heimat Nagano, wo 1998 die Winterspiele stattfanden, habe einmal ein Para-eishockeyspieler ihre Klasse besucht und von seinem Sport erzählt. „Seitdem war ich total fasziniert und bin auch privat öfter zu Spielen gegangen.“Auch wenn Japans öffentlicher Rundfunksender NHK nicht annähernd so viel von den Paralympischen Spielen übertragen wird wie zuvor von den Olympischen: Azusa Yokota wird die in einer Woche startende, kleinere Sportveranstaltung genauer verfolgen.
Geht es um das Interesse an den Paralympischen im Gegensatz zu den Olympischen Spielen, mag die Tokioter Lehrerin in der Minderheit sein. Was aber die Sympathien angeht, sind Azusa Yokotas Eindrücke durchaus typisch für das Gastgeberland Japan. Während die Kritik an den Olympischen Spielen über die letzten Jahre und Monate immer lauter wurde, blieb es um die Paralympics eher ruhig. Auch nun, wo die Spiele kurz vor ihrem Start stehen, ist die Opposition im ostasiatischen Land kaum hörbar – anders als vor der Eröffnung der Olympischen Spiele. Eher freut man sich nun auf eine kleine Sportzugabe zum Ende des Sommers.
Gesundheitspolitisch ist das paradox. Die pandemische Lage in Japan hat sich über die letzten Wochen deutlich verschlimmert. Offizielle beteuern zwar, dass die Olympiablase, durch die Olympiateilnehmer von der Öffentlichkeit abgeschottet werden sollten, dichtgehalten habe und kaum für direkte Infektionen gesorgt habe. Kritiker aber weisen auf eine indirekte Auswirkung der Veranstaltung hin. Indem Olympia stattfand, habe sich demnach die gesamte Gesellschaft nicht weiter zur Vorsicht aufgerufen gefühlt.
Die Neuinfektionen von zuletzt 20.000 zeigen jedenfalls, dass Japan noch nie so stark unter der Pandemie zu leiden hatte wie jetzt. Noch während der Olympischen Spiele kündigte Premierminister Yoshihide Suga durch die Blume den Kollaps des Gesundheitssystems an: Ins Krankenhaus würden nur noch
Patienten mit schweren Symptomen aufgenommen, was in Japan ein echtes Alarmsignal ist. Alle anderen müssen daheim ausharren.
Kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele hatte eine Umfrage ergeben, dass 85 Prozent befürchteten, die Pandemie würde sich durch den Sportsommer verschlimmern. Nun, wo die Lage tatsächlich noch ernster geworden ist, sieht man allerdings kaum Demonstranten auf der Straße und liest auch keine kritischen Kommentare in großen Zeitungen, die eine Absage der Paralympischen Spiele fordern. Warum nicht?
Fragt man Hiroki Ogasawara, Soziologieprofessor an der Universität Kobe, hat dies vor allem mit strukturellen Unterschieden der beiden Veranstaltungen zu tun. „Was die Kosten und die ökonomischen Erträge angeht, spielen die Paralympics nicht so viel ein wie Olympia. Aus Veranstalterperspektive sind sie mehr für die moralische und soziale Anerkennung da.“Auf entsprechende Weise betrachte auch die Öffentlichkeit die Paralympics, so Ogasawara.
Während nämlich Kritiker die Olympischen Spiele oft als kapitalistisches Monster mit illegitimen quasistaatlichen Strukturen sehen, gelten die Paralympics eher als Underdog, der noch um die ihm zustehende Anerkennung kämpfen müsse. Ein anderer Grund für die Ruhe um die Veranstaltung, für die wie schon bei Olympia Tausende Menschen aus dem Ausland einreisen, dürfte Fatalismus sein. Schließlich waren die Anstrengungen der vielen Skeptiker schon im Zuge der Olympischen Spiele wirkungslos.
Aber auch echte Vorfreude ist zu beobachten. „Ich habe viel mehr Interesse an den Paralympics“, sagte eine Restaurantbetreiberin im westlichen Zentrum Tokios vor zwei Wochen. „In meiner Familie hat jemand eine Behinderung. Deswegen weiß ich, wie groß die Anstrengungen von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sind“, erklärte sie. Olympia sei nur eine große, beeindruckende Show. „Aber die echte soziale Bedeutung haben doch die Paralympischen Spiele.“Ähnliche Sätze sind in Tokio dieser Tage häufig zu hören.
Diese Art von Anstand ist wohl ein weiterer Grund, warum die Gefahren durch die Pandemie nun eher ausgeblendet werden und man den Paralympischen Spielen mit mehr Ruhe entgegenblickt. Reibungslose Paralympische Spiele könnten wiederum auch als Imagepolitur für die pompöseren Olympischen Spiele dienen.
Allerdings ist keineswegs klar, wie reibungslos sich die Paralympischen Spiele veranstalten lassen. Am Montag verkündete die japanische Regierung, den vor allem in Tokio und benachbarten Präfekturen geltenden Ausnahmezustand, mit dem Menschen zum Daheimbleiben und Restaurants zum frühen Schließen aufgefordert werden, auf mehrere Präfekturen und bis Mitte September auszuweiten. Außerdem wurde beschlossen, dass auch die Paralympischen Spiele ohne Zuschauer in den Spielstätten laufen werden. Sportstimmung wird also wieder nur über den Fernseher aufkommen können. Wobei diesmal weniger davon übertragen wird.