Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Bundeswehr setzt Rettungsmission fort
Die deutsche Luftwaffe hat bislang zwei Evakuierungsflüge aus Kabul organisiert, weitere sollen folgen. Eine Bestandsaufnahme.
BERLIN Nach der schnellen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan sind westliche Alliierte bemüht, Staatsbürger und afghanische Hilfskräfte schnellstmöglich aus dem Land und in Sicherheit zu bringen. Die europäischen Außenminister kamen am Dienstagnachmittag zusammen, um das weitere Vorgehen zu beraten. Wie die Lage in Afghanistan ist und wie es nun auch mit Blick auf Flüchtlingsbewegungen nach Europa weitergehen soll, zeigt der Überblick.
Evakuierung Die zweite Evakuierungsmaschine der Bundeswehr mit 127 Menschen aus Afghanistan an Bord ist am Dienstagnachmittag in Taschkent im Nachbarland Usbekistan gelandet. An Bord seien „deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte sowie weitere zu Schützende“, teilte das Verteidigungsministerium mit. Eine erste Bundeswehr-maschine hatte in der vorangegangenen Nacht die ersten fünf Deutschen sowie einen weiteren Europäer und einen Afghanen aus Kabul unter schwierigen Bedingungen ins Nachbarland Usbekistan ausgeflogen. Am Dienstag hatte es scharfe Kritik gegeben, weil das Flugzeug nur mit sieben Menschen besetzt wurde, während eine Us-maschine mehr als 640 Afghanen auf einmal ausgeflogen hatte. Die Bundesregierung begründete dies mit der Lage in Kabul: „Aufgrund der chaotischen Umstände am Flughafen und regelmäßiger Schusswechsel am Zugangspunkt war gestern Nacht nicht gewährleistet, dass weitere deutsche Staatsangehörige und andere zu evakuierende Personen ohne Schutz der Bundeswehr überhaupt Zugang zum Flughafen erhalten würden“, erklärte das Auswärtige Amt.
Aktuelle Lage und weitere Planung Noch am Dienstag plante die Bundeswehr zwei weitere Evakuierungsflüge aus Kabul, wie Außenminister Heiko Maas mitteilte. „Die Lage am Flughafen hat sich Gott sei Dank stabilisiert“, sagte der SPD-POLItiker. Deutsche Staatsangehörige würden – im Gegensatz zu einheimischen Ortskräften – auf dem Weg zum Flughafen an Kontrollstellen der Taliban durchgelassen. Daher habe die Botschaft sie aufgefordert, sich zum Flughafen zu begeben. Die Bundesregierung sei dabei, zusammen mit den USA und anderen Partnern auch die Ausreise der Ortskräfte zu organisieren, und wolle hierzu direkt auch mit den Taliban verhandeln. Für die Ortskräfte sei „die Lage deutlich gefährlicher“. Der ehemalige Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan, Markus Potzel, sei auf dem Weg nach Katar, so Maas am Dienstag weiter. „Er wird ab heute Abend dort sein und damit selber auch die Möglichkeit haben, Gespräche zu führen.“
Die Luftwaffe will zwischen Kabul und der usbekischen Hauptstadt Taschkent eine Luftbrücke einrichten, vornehmlich für deutsche Staatsbürger und Teile der bis zu 10.000 afghanischen Ortskräfte. Nach Informationen der Deutschen Presse-agentur landeten am Dienstagnachmittag eine erster Linienmaschine aus Doha mit deutschen Botschaftsangehörigen auf dem Berliner Flughafen Schönefeld. In der Nacht zum Mittwoch werde eine weitere Maschine mit Evakuierten aus dem usbekischen Taschkent in Fankfurt erwartet, sagte ein Lufthansa-sprecher.
Nrw-flüchtlingsminister Joachim Stamp (FDP) sagte: „Wir haben bereits 800 Plätze für Ortskräfte, die evakuiert werden, sowie deren Familien bereitgestellt.“Weitere Kapazitäten seien möglich. Die Bundesregierung solle sich für eine Konferenz zur Verteilung der Flüchtlinge einsetzen – nach dem Vorbild der Genfer Konferenz für die Boat People aus Vietnam.
Entwicklungshilfe Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) teilte am Dienstag mit: „Die staatliche Entwicklungszusammenarbeit ist derzeit ausgesetzt.“Man sei erleichtert und dankbar, dass die verbliebenen deutschen und internationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit sicher das Land verlassen hätten. Die Bundesregierung hat neben der Entwicklungshilfe auch alle anderen staatlichen Hilfszahlungen ausgesetzt. Afghanistan war bisher die Nummer eins unter den Empfängerländern deutscher Entwicklungshilfe. Für dieses Jahr waren 250 Millionen Euro veranschlagt.
Pläne der Taliban Nach Medienberichten gibt es erste öffentliche Hinrichtungen durch die Taliban. Unbestätigten Darstellungen zufolge durchsuchen Taliban Häuser in Kabul und anderswo nach Helfern der Nato-truppen, was von den Islamisten in einer Pressekonferenz vehement bestritten wurde.
Flüchtlinge Während sich mehrere Bundesländer auf den Zuzug von Flüchtlingen aus Afghanistan vorbereiten, wollte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zunächst mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) über mögliche Hilfen austauschen. Bei einem Gespräch mit Un-flüchtlingskommissar Filippo Grandi sollte es am Dienstag auch um Unterstützung in der Region gehen.
der vergangenen Grünen-chef Robert Habeck hat eine lückenlose Aufklärung der Fehlerkette in der Bundesregierung beim verspäteten Rettungseinsatz in Afghanistan verlangt. „Die Aussagen der Bundesregierung, niemand habe vor der Situation gewarnt, wecken ernsthafte Zweifel“, sagte Habeck unserer Redaktion.
Linken-fraktionschef Dietmar Bartsch kritisierte fehlende personelle Konsequenzen: „In früheren Zeiten wurden Kabinette umgebildet und Ministerinnen und Minister bei Verfehlungen entlassen.“In der Regierungszeit von Merkel habe sich aber „eine Unkultur der politischen Verantwortungslosigkeit eingeschlichen, die dem Ansehen der Politik insgesamt schadet“. (mit rtr)