Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Es wäre gut, wenn Rom sich bald äußert“
RAINER MARIA KARDINAL WOELKI Im Frühjahr hat der Kardinal und Erzbischof sein Schicksal in die Hände des Vatikan gelegt. Auf eine Antwort wartet er noch immer.
Herr Kardinal Woelki, wie hat der Skandal des sexuellen Missbrauchs die katholische Kirche in Deutschland verändert?
WOELKI Er hat die katholische Kirche tief erschüttert und auch gespalten. Aber er hat auch dazu geführt, dass die Kirche sich diesen Verbrechen gestellt hat, um sexuellen Missbrauch durch Priester künftig zu verhindern.
Und wie hat dieser Skandal Sie verändert?
WOELKI Ich habe in den vergangenen Jahren viele Gespräche mit Betroffenen geführt, und natürlich sind das keine angenehmen Gespräche gewesen. Nach jedem Gespräch bin ich aufs Neue erschüttert und fassungslos über das, was den Menschen geschehen ist. Ich fühle mich auch persönlich verletzt, dass dies durch Priester möglich wurde. Es ist unsere Pflicht, dies vollumfänglich aufzuarbeiten und strukturelles und persönliches Versagen zu benennen. Auch deshalb, weil viele Betroffene den Missbrauch dann überhaupt erst verarbeiten können. Sie wollen wissen, wer die Verantwortung dafür getragen hat, dass etwa ein Priester in die Gemeinde versetzt wurde, obwohl dieser als Missbrauchstäter bekannt war. Hätte es dieses Versagen nicht gegeben, wäre ihr Leben komplett anders verlaufen.
Reflektieren Sie Ihr eigenes Verhalten heute stärker als früher?
WOELKI Ich würde nicht sagen, dass ich mein Verhalten früher nicht reflektiert habe. Ich werde aber jetzt durch die öffentlichen Diskussionen auf eine ganz andere Weise herausgefordert. Das ist immer schwierig, weil der Öffentlichkeit aus datenschutzrechtlichen Gründen die gesamten Zusammenhänge nicht bekannt sind und diese aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen nicht offengelegt werden können. Gerade mit Blick auf die Frage nach der Aufarbeitung des Missbrauchs und dem möglichen persönlichen Fehlverhalten Einzelner werden immer Baustellen zurückbleiben.
Die Gemeinde in Düsseldorf-gerresheim ist für Ihre Anfänge als Seelsorger sehr wichtig gewesen. Dort waren Sie Praktikant und Diakon und wurden dabei begleitet vom Priester O., dem später sexueller Missbrauch vorgeworfen wurde. Als Ihnen der Fall 2015 bekannt
wurde, meldeten Sie ihn nicht nach Rom, weil der Priester, der 2017 starb, nicht mehr aussagefähig gewesen sei. Eine Fehlentscheidung? WOELKI Ich habe mich 2015, glaube ich, rechtlich korrekt verhalten. Im Rückblick würde ich aber sagen, dass es besser gewesen wäre, wenn ich auch diesen Fall nach Rom gegeben hätte – angesichts der dann folgenden großen Auseinandersetzung. Das Ergebnis hätte nicht anders ausgesehen, aber es wäre für alle Beteiligten der klarere Weg gewesen.
Sie haben im Frühjahr Papst Franziskus um eine Beurteilung gebeten und Ihr Schicksal als Erzbischof von Köln in seine Hände gelegt. Haben Sie eine Antwort bekommen? WOELKI Nein.
Es gab dann aber den Besuch der beiden Visitatoren.
WOELKI Mit dieser Situation der Aufarbeitung umzugehen, wird auch eine Herausforderung für den Vatikan gewesen sein. Da auch Bischöfe in verantwortlichen Positionen davon betroffen sind, halte ich es für angemessen, dass sich die Verantwortlichen im Vatikan ein möglichst unabhängiges Bild von der Situation machen wollten. Das ist ein faires, gutes Vorgehen.
Das Gutachten der Visitatoren soll abgeschlossen sein und Papst Franziskus seit geraumer Zeit vorliegen. Wie empfinden Sie die jetzige Situation des Wartens?
WOELKI Natürlich wäre es gut, wenn sich Rom dazu bald äußern würde. Der Vatikan hat von sich aus die Angelegenheit an sich gezogen und darum jetzt auch die Verpflichtung, sich mit Blick auf alle betroffenen Personen sachgerecht zu äußern. Es kann nicht sein, dass man sich monatelang Zeit lässt und die Menschen in Ungewissheit belässt.
Haben Sie selbst in den vergangenen Monaten konkret Ihren Rücktritt erwogen? Oder wollten Sie Ihre Entscheidung allein vom Votum des Papstes abhängig machen? WOELKI Natürlich habe ich das in den vergangenen Monaten auch bedacht und überlegt. Und sehr konkret im vergangenen Winter. Als damals ein neuer Missbrauchsfall bekannt wurde, habe ich mir spontan gesagt, dass ich jetzt eigentlich nur noch meinen Rücktritt anbieten kann, um als derjenige, der gegenwärtig die Verantwortung für das Erzbistum trägt, auch die institutionelle Verantwortung für das Vergehen und das Versagen in den früheren Jahren zu übernehmen. Ich habe sehr damit gerungen. Aber ich nehme meine moralische Verantwortung eher wahr, indem ich mich der Aufarbeitung stelle und nicht meine Verantwortung an andere abgebe.
Hat die Debatte um die Aufklärung des sexuellen Missbrauchs nicht auch gezeigt, dass die Kirche selbst damit überfordert ist? Sollte sie nicht besser und verantwortlicher alles in unabhängige Hände geben? WOELKI Es ist wichtig, die Kraft zur Selbstreinigung aufzubringen. Man muss die Fähigkeit und auch die Bereitschaft haben, ein solches Versagen selbst aufzuarbeiten. Insofern ist es gut, dass wir diesen Schritt selbst getan haben. Wir wollten aufarbeiten und haben ein unabhängiges Gutachten vorgelegt. Jetzt werden wir die Aufarbeitung einer unabhängigen Kommission unter anderem aus Juristen, Psychologen und Medizinern anvertrauen und warten darauf, dass das Land die dazu notwendigen Schritte einleitet. Von uns aus hätte das vor Wochen geschehen können.
Zumindest in ihren Ergebnissen zu pflichtwidrigem Verhalten der Bischöfe unterscheidet sich das Gercke-gutachten nicht vom Wsw-gutachten, das zurückgehalten wurde und erhebliche Kritik provozierte. Wäre es besser gewesen, trotz bestehender Vorbehalte das Wsw-gutachten zu publizieren? WOELKI Natürlich wäre das für mich viel einfacher gewesen. Und es hätte uns einiges an Ärger und Vertrauensverlust erspart. Aber ich bin auch jetzt davon überzeugt, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. Namhafte Juristen haben uns darauf aufmerksam gemacht, dass eine Veröffentlichung rechtswidrig gewesen wäre. Das konnte ich nicht vereinbaren mit meiner staatsbürgerlichen Pflicht und meinem Eid, den ich auf die Verfassung des Landes gegeben habe.
Wenn sich in der öffentlichen Wahrnehmung das Amt des Bischofs geändert hat, muss sich dann auch die Macht und die Hierarchie in der Kirche ändern? WOELKI Der Bischof muss bei den Menschen sein und hören und wahrnehmen, was die Gläubigen sagen. Aber das Lehramt hat in der Kirche auch eine bestimmte Aufgabe, die es wahrnehmen muss. Es ist richtig, dass wir uns gemeinsam den Herausforderungen der Zeit stellen; aber die Lösungen und Wege, die dann gefunden werden, müssen im Einklang mit Glauben und Lehre stehen.
Ist ein Glaube auch außerhalb der Kirche möglich und lebbar?
WOELKI Ich möchte niemandem seinen Glauben auch außerhalb der Kirche absprechen. Für mich persönlich ist es nur schwer vorstellbar, weil ich allein innerhalb der Kirche Christus so nah begegnen kann, dass ich mit ihm eine tiefe Gemeinschaft leben kann. Kirche ist ja nicht nur menschliche Institution und Organisation; da hat sie eben viele Mängel und Defizite, hat Schuld auf sich geladen und in ihrer Geschichte immer wieder versagt. Kirche ist für mich heilsnotwendig, sie ist für mich so existenziell, dass ich sie nie verlassen könnte.