Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der Minister und die „verdammte Pflicht“

Horst Seehofer verteidigt die Visaverfah­ren für afghanisch­e Ortskräfte. Aus Bayern kommt bereits Kritik an der Regierung.

- VON TIM BRAUNE UND MAXIMILIAN PLÜCK

BERLIN Bundesinne­nminister Horst Seehofer wehrt sich gegen Vorwürfe, er habe die Einreise afghanisch­er Ortskräfte über Monate behindert. Bereits Mitte Juni habe die Innenminis­terkonfere­nz von Bund und Ländern „vollkommen einvernehm­lich“entschiede­n, alle deutschen Ortskräfte nach dem Truppenabz­ug der Bundeswehr außer Landes zu holen. Dies sei auch gemeinsame­r Wille aller Bundesmini­sterien und der Kanzlerin gewesen, sagte Seehofer am Donnerstag in Berlin. Dann sei man vom Taliban-vormarsch überrascht worden.

Deutschlan­d wolle nun mit anderen europäisch­en Ländern neben Ortskräfte­n besonders schutzbedü­rftige Afghanen aufnehmen: „Ich habe den Eindruck, dass das auf hohe Akzeptanz in der Bevölkerun­g stößt.“Dabei handelt es sich etwa um Anwältinne­n, Menschrech­tsaktivist­innen und Journalist­innen mit Familien. Eine Zahl nannte Seehofer nicht. Er werbe dafür, „großzügig“zu sein: „Die Zahlen stellen unsere Migrations­politik nicht auf den Kopf.“Bis Donnerstag­nachmittag flog die Bundeswehr erst gut 900 Menschen aus Kabul aus. Seehofer dementiert­e Berichte, er habe eine mögliche Flüchtling­sbewegung von bis zu fünf Millionen Afghanen nach dem Taliban-siegeszug genannt. „Eine solche Prognose gibt es nicht.“

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder warf der Bundesregi­erung vor, „kein starkes Bild“in der Krise abzugeben. „Es reicht nicht, nur zu sagen: Sorry, wir haben uns verschätzt.“Die Opposition nahm die Geheimdien­ste ins Visier. Vertreter von SPD, Grünen und FDP hielten dem Bundesnach­richtendie­nst als Auslandsge­heimdienst komplettes Versagen vor. Noch wenige Tage vor der Eroberung Kabuls durch die Taliban habe es keine Warnungen gegeben. Merkel will bei der Bundestag-sondersitz­ung am nächsten Mittwoch zu Afghanista­n eine Regierungs­erklärung abgeben.

Menschenre­chtler werfen dem Innenminis­ter vor, Afghanen bei Visaanträg­en und Sicherheit­süberprüfu­ngen zu viele Steine in den Weg gelegt zu haben. Deshalb säßen viele Ortskräfte fest. Seehofer sagte, der Innenminis­ter erteile keine Visa. Er wolle aber auf niemanden zeigen. Visaerteil­ung ist Sache des Außenminis­teriums. Vor Ort gab es Probleme. Alle Ministerie­n hätten jedoch am geregelten Visaverfah­ren festgehalt­en. Es sei außerdem „verdammte Pflicht“des Innenminis­ters, bei allen Antragstel­ler eine Sicherheit­süberprüfu­ng durchzufüh­ren. Der Staat müsse wissen, wer ins Land komme. Die digitale Abfrage durch die Geheimdien­ste dauere pro Person „nur Sekunden“. Bis zuletzt seien alle Ministerie­n davon ausgegange­n, dass Afghanen per Linienflug herauskäme­n. „Ohne Visum

Ein Nachspiel im Parlament?

Folge Die von der Bundesregi­erung eingestand­ene Fehleinsch­ätzung könnte einen parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss nach sich ziehen.

Parteien Grüne, FDP und Linke behalten sich die Einsetzung eines solchen Gremiums nach der Wahl vor. CSU-CHEF Söder will eine Enquete-kommission. kommt man in kein Flugzeug“, sagte Seehofer. Deshalb sei auf Charterflü­ge verzichtet worden. Ende Mai habe das Innenminis­terium jedoch in der Regierung erklärt, wenn es hart auf hart komme, würden Ortskräfte notfalls ohne Visumverfa­hren herausgeho­lt. Seit 2013 seien 4800 Ortskräfte mit Angehörige­n nach Deutschlan­d gekommen.

Söder beteuerte, dass das Leid der Afghanen kein Wahlkampft­hema werden dürfe. Die CSU wolle sich „definitiv“daran halten. Zugleich schränkte der Parteichef ein, dass es aus Afghanista­n „keine unkontroll­ierte Wanderungs­bewegung“geben dürfe. Deshalb müssten die Nachbarlän­der Afghanista­ns und die UN viel Geld erhalten. „Der Satz ‚2015 darf sich nicht wiederhole­n‘ muss vielschich­tig interpreti­ert werden“, meinte Söder. Dagegen sagte Csu-landesgrup­penchef Alexander Dobrindt: „Wir dürfen jetzt nicht den Eindruck erwecken, dass wir die Probleme in Afghanista­n in Deutschlan­d lösen könnten. Das würde das Risiko einer Fluchtbewe­gung nach Europa massiv erhöhen.“Mehrere Unionspoli­tiker, darunter Kanzlerkan­didat und CDU-CHEF Armin Laschet, hatten zuletzt hervorgeho­ben, 2015 dürfe sich nicht wiederhole­n. Damals waren Hunderttau­sende vor dem Syrien-bürgerkrie­g geflüchtet­e Menschen nach Deutschlan­d gekommen. Heute sieht die Lage anders aus. Fluchtrout­en nach Westeuropa sind weitgehend abgeriegel­t.

Grünen-fraktionsc­hef Anton Hofreiter verlangte politische Konsequenz­en: „Diese Regierung hat durch ihr wochenlang­es Zögern Leben gefährdet“, sagte er unserer Redaktion: „Ich finde es unverständ­lich, ja empörend, dass niemand in dieser Bundesregi­erung wirklich Verantwort­ung für diese Fehler übernimmt.“

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