Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Das Gift wirkt
Ein Jahr nach dem Anschlag auf ihn erwarten Alexej Nawalny weitere Prozesse. Die Opposition ist faktisch zerschlagen.
BERLIN Alexej Nawalny versucht es immer wieder mit Humor. „Ihr könnt mich jetzt Doc Brown nennen“, schrieb der inhaftierte russische Regimegegner zuletzt bei Instagram. Denn so wie der Doktor in dem Film „Zurück in die Zukunft“sei nun offenbar auch er, Nawalny, im Besitz einer Zeitmaschine. Anders könne er sich die neuesten Vorwürfe gegen ihn nicht erklären. Drei weitere Jahre Haft drohen dem Kremlkritiker: „Sie sagen, ich hätte 2011 ein Verbrechen begangen, indem ich die Anti-korruptions-stiftung FBK gegründet habe. Der Beweis dafür ist, dass die FBK zehn Jahre später als extremistisch eingestuft wurde. Ein Zeitmaschinenverbrechen.“
Ist das noch oppositioneller Kampf oder Überlebensstrategie? Die Frage stellen Beobachter in Russland immer öfter. Ein Jahr nach dem Giftanschlag auf Nawalny in einem Flugzeug über Sibirien kommen viele zum Ergebnis: Der Kremlkritiker hat den Versuch, ihn mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok zu eliminieren, überlebt – politisch sei Nawalny inzwischen aber tot. Seine Inhaftierung und die Zerschlagung seiner Organisationen durch den Machtapparat Präsident Wladimir Putins „erzeugen ein tiefes Gefühl von einem Ende, von der endgültigen Niederschlagung der Opposition“, analysiert Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja.
Der Blick auf die Entwicklung nach dem Anschlag am 20. August 2020 bestätigt das. Nawalny wird ausgeflogen und überlebt mit Hilfe eines Berliner Ärzteteams. Noch während der Reha in Deutschland enttarnt er mehrere russische Agenten, die den Anschlag verübt haben sollen. Recherchen erhärten später die Theorie vom Mordversuch im Staatsauftrag. Im Januar 2021 kehrt Nawalny nach Russland zurück, wird verhaftet und wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Zehntausende demonstrieren landesweit für seine Freilassung. Doch die Polizei unterdrückt den Widerstand.
Nawalny tritt in einen Hungerstreik, den er aber in akuter Lebensgefahr beendet. Es hilft alles nichts. Im Frühjahr stufen die Behörden seine politischen Organisationen als extremistisch ein und verbieten sie. Nawalnys wichtigste Mitstreiter fliehen ins Ausland. Seine Frau Julia, Tochter Daria und Sohn Zahar leben bereits im Exil.
Und Nawalny? Sollte er wegen der Gründung einer extremistischen Vereinigung verurteilt werden – das „Zeitmaschinenverbrechen“– würde er weit über die Präsidentschaftswahl 2024 hinaus in Haft bleiben. Nicht wenige Beobachter vermuten: Solange Putin an der Macht ist, wird Nawalny das Straflager nicht mehr verlassen. Er sei „unter einen Panzer geraten“, sagt der Putin-gegner und ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski, der einst selbst zehn Jahre in einem sibirischen Lager einsaß. Nawalny ist nicht weit von Moskau inhaftiert, in einem berüchtigten „Foltergefängnis“in der Kleinstadt Pokrow.
Im Juni reichten die Anwälte des 45-Jährigen erneut Klage gegen die Haftbedingungen ein. Die Erfolgschancen: minimal. Nawalny leidet vor allem unter Schlafentzug durch regelmäßiges Wecken in der Nacht. Was ihm in dieser Lage bleibt, sind Mitteilungen über Instagram und Twitter. Immer wieder versucht er sich als unbeugsamen Anführer der Opposition zu inszenieren. Als Mann, der „Massen mobilisieren kann“, schrieb er bei Telegram.
Doch die Nachrichten aus der Haft sind wohl zumindest halbe „Fakes“: Es ist Nawalnys Team, das die Kanäle mit Material füttert. Denn die Gefängnisinsassen in Pokrow dürfen nach Recherchen russischer Medien nur ein Münztelefon benutzen, um mit Anwälten und Verwandten zu sprechen. Die Gespräche werden mitgehört. Zugang zum Internet haben die Gefangenen nicht. Deshalb muss auch offenbleiben, ob Nawalny sein Lachen in Wirklichkeit nicht längst vergangen ist.
Beobachter vermuten: Solange Putin an der Macht ist, wird Nawalny im Straflager bleiben