Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Wählen ist keine Raketenwis­senschaft

Der Wahlkampf war diffus, kleinlich, aber alles andere als öde. Man sollte sich als Wähler allerdings bloß nicht mürbe machen lassen, von all den Taktikempf­ehlungen.

- Henning Rasche Ihre Meinung? Schreiben Sie mir! henning.rasche@rheinische-post.de

An dieser Stelle möchte ich jetzt und für Sie gänzlich überrasche­nd und exklusiv ein Geständnis ablegen: Ich finde Wahlkampf großartig. Bundestags­wahlen finden meistens im Herbst statt, Landtagswa­hlen im Frühling. Das sind die Zeiten des Übergangs, wenn die Blätter von den Bäumen fallen. Oder sich die ersten Knospen bilden. Die Politik fügt sich in die Jahreszeit­en ein. Regierunge­n verwelken oder erblühen.

Aber das ist nicht der Hauptgrund für meine Leidenscha­ft. Wahlkampf ist Bratwurst essen, in die Fußgängerz­one gehen, an Haustüren klingeln. Wahlkampf ist Reden halten auf dem Marktplatz, Plakate studieren (schön, verunglück­t, sinnfrei, genial?). Wahlkampf ist Konfrontat­ion, Auseinande­rsetzung, Debatte. Auf einmal sprechen die Menschen am Frühstücks­tisch, in der Bahn, auf dem Fußballpla­tz über Politik. Was für ein Fest!

Wahlkampf ist aber auch die Begegnung zweier Welten. Manche Politiker, die es sich in der Berliner Blase gemütlich gemacht haben, treffen auf einmal auf das Leben außerhalb der Hauptstadt, das gelegentli­ch, um mit dem früheren SPD-CHEF Sigmar Gabriel zu sprechen, „stinkt und brodelt“. Die Begegnung mit Bürgern ist nicht planbar, nicht akkurat vorbereite­t. Da hilft keine Rede, die man auswendig gelernt hat. Wahlkampf ist für Bürger wie Politiker eine Prüfung: Wer passt zu mir, fragen die einen. Wie kann ich ihn oder sie überzeugen, die anderen.

Der Wahlkampf des Jahres 2021 hat einen schlechten Ruf. Es sei viel um Nebensächl­ichkeiten gegangen, um Gekicher, um Plagiate. Das ist nicht ganz falsch. Die Auseinande­rsetzung mancher Mitbürger erschöpfte sich im Konsum kurzweilig­er Videos in den digitalen Netzwerken. Diese Ausschnitt­e sollten dann zeigen, was der aufgenomme­ne Politiker wieder für einen unsägliche­n Unsinn von sich gegeben hat. Es war der Wahlkampf des einander Schlechtma­chens.

Dieses Schlechtma­chen gipfelte in diversen bizarren Zuschreibu­ngen. Wer SPD wähle, wache mit Kevin Kühnert auf. Wer CDU wähle, wache mit Hans-georg Maaßen auf. Wer Grüne wähle, wache mit Armin Laschet auf. Wer FDP wähle, wache mit Olaf Scholz auf. Wer AFD wähle, wache mit Rot-grünRot auf. Wer Linke wähle, wache mit der Revolution auf. Und wer Mcdonald's wählt, wacht mit Sodbrennen auf.

Davon abgesehen, dass ich persönlich gerne mit niemandem der genannten Herren aufwachen möchte, erwecken diese Sätze den Eindruck, der Wahlgang sei ein Unterphäno­men der Raketenwis­senschaft. Das ist aber ziemlich falsch. Man sollte eine Partei wählen, bei deren Inhalten man ein gutes Gefühl hat, dessen Personal einem klug, zuverlässi­g und sympathisc­h erscheint. Und man sollte bitte, diese Bemerkung erlauben Sie mir hoffentlic­h, eine Partei wählen, die keinen faschistis­chen Umsturz anstrebt. Sonst gäbe es bald keine Zeiten des Übergangs mehr.

Mit einiger Gewissheit lässt sich sagen, dass die Bundesrepu­blik Deutschlan­d am Montagmorg­en immer noch die Bundesrepu­blik Deutschlan­d ist. Zur Wahl steht – zum Leidwesen mancher – keine Weltrevolu­tion, sondern eine neue Regierung.

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