Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Stil? Voll!
Görlitz hat die DDR nur knapp überlebt, eine grandiose Hollywood-karriere hingelegt, Millionen geerbt und steht in dem Ruf, Deutschlands schönste Stadt zu sein.
Nostalgiker wühlen ja gern in Schubladen mit der Aufschrift „Früher war alles besser“, um sich an Zeiten zu erinnern, in denen man noch in edlen Patrizierhäusern wohnte statt in solch seelenlosen Nacktbetontürmen, wie moderne Architekten sie heute bauen. Ein wunderbares Mittel gegen solche Melancholie-schübe ist eine Reise nach Görlitz. In Deutschlands östlichster Stadt ist auch nicht alles besser, aber doch vieles schöner. Warum sie als städtebauliches Gesamtkunstwerk gepriesen wird, lässt sich schon bei der Ankunft in der imposanten Empfangshalle des Jugendstil-bahnhofs erahnen, der die Messlatte der Erwartungen gleich noch ein Stückchen höher legt, und tatsächlich – Görlitz ist ganzheitlich großartig. Mehr als 4000 Baudenkmäler besitzt die Stadt. Besucher können von einer zur anderen Stilepoche spazieren, zu top restaurierten Spätgotik-, Renaissance- und Barockhäusern in der Altstadt und durch weiträumige Jugendstil- und Gründerzeitviertel samt prächtiger Parkanlagen, die sich um den Stadtkern legen. Reich verzierte Portale und Fassaden, traumhafte Innenhöfe und Laubengänge zeugen davon, dass Görlitz die längste Zeit seiner Geschichte eine der wohlhabendsten Städte Deutschlands war, reich geworden durch das kostbare Färbemittel Waid, durch Tuchherstellung und Waggonbau. Im Herzen Europas an einer Kreuzung von zwei Handelswegen gelegen, wurde die Stadt zum urbanen Zentrum der Oberlausitz. „In Görlitz residieren die Bürger ja wie Fürsten in ihren Kaufmannsburgen“, soll Goethe bei seinem Besuch bewundernd festgestellt haben.
Wenn das klappernde Geräusch von Pferdekutschen über das Kopfsteinpflaster hallt, scheint das historische Zentrum wieder so vornehm und würdevoll wie einst. Zwei Weltkriege hat die Stadt an der Neiße unversehrt überstanden, doch die Jahrzehnte der Vernachlässigung zur DDR-ZEIT hätten ihr fast den Garaus gemacht. Der Arbeiter- und Bauernstaat ließ die Bauten des Bürgertums absichtlich verkommen. An den verfallensten Häusern sollen sogar bereits Bohrlöcher für das Anbringen von Sprengladungen vorbereitet gewesen sein, um Teile der Altstadt in die Luft zu jagen. Doch dann kam die Wende und mit ihr die Auferstehung aus Ruinen. Ein Großteil der denkmalgeschützten Gebäude wurde glanzvoll saniert und die Vielfalt an original erhaltener Bausubstanz dadurch zum Traum aller Filmproduzenten und Regisseure. „Inglourious Basterds“, „Grand Budapest Hotel“, „In 80 Tagen um die Welt“und „Der Vorleser“wurden hier unter anderem gedreht, was der Stadt den Beinamen „Görliwood“einbrachte. Sie doubelte zwar immer nur andere Städte, doch ein Ort, an dem man sich wie in Paris, Venedig, New York, Frankfurt oder Straßburg fühlen kann, muss eine echte Weltstadt sein.
Genügend Stoff für großes Kino könnte Görlitz ohnehin selbst liefern, für einen Film mit dem Titel „Der Millionenspender“zum Beispiel. Von 1995 bis 2016 überwies ein mysteriöser Unbekannter alljährlich eine Million DM, respektive 511.500 Euro, auf ein städtisches Konto. Das Geld durfte einzig zum Zweck der Altstadtsanierung verwendet werden. Auf eine Spendenquittung verzichtete der Mäzen, machte jedoch zur Bedingung, dass seine Anonymität gewahrt bleibt. Geflüstert, wer der Gönner wohl gewesen sei, wurde in Görlitz schon so manches, die Versuche pfiffiger Touristen ihrem Stadtführer das Geheimnis am Flüsterbogen zu entlocken, blieben allerdings erfolglos – heißt es. Wenn man sich ganz nah an die Seite der mittelalterlichen Pforte stellt und etwas in die Hohlkehle des Torbogens flüstert, vernimmt es der Empfänger am anderen Ende wie durch einen Lautsprecher.
Kein Geheimnis machen die Görlitzer indes daraus, wo man die schönste Fleischerei in ihrer Stadt findet – in der Bismarckstraße 3. Dort hat Thomas Büchner einen viele Jahre leerstehenden Laden wieder zum Leben erweckt. Handbemalte Fliesen aus der einst in Dresden ansässigen Steingutfabrik Villeroy & Boch zieren die Wände. Sie zeigen Motive des Fleischerhandwerks von der Weide bis zum Verkauf warmer Würstchen und locken selbst Veganer in das Geschäft. Mit der gleichen Leidenschaft wie Büchner haben sich Martina Schuster und ihr Mann Ralf des uralten Handwerkerhauses „Alte Seilerei“angenommen, wo sie Görlitzer Gastfreundschaft pflegen und Reisende in gemütlichen Ferienwohnungen beherbergen. Es gibt noch viele weitere Beispiele von Menschen, die ihre Ideen vom guten Leben in Görlitz in die Tat umsetzen, aber nicht nur dort.
Wer Görlitz sagt, der muss nämlich auch Zgorzelec sagen, das auf der östlichen Seite der Neiße liegt und seit 1945 zu Polen gehört. Als im Dezember 2007 die Grenzkontrollen zwischen den beiden Nachbarländern endeten, wurden Görlitz und Zgorzelec wieder zu dem, was sie bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren: eine Stadt – jetzt eben in zwei Ländern, verbunden durch eine Fußgängerbrücke über
die Neiße. Wenn zur Abenddämmerung das Licht gen Westen flieht, spiegeln sich auf der seelenruhigen Oberfläche des Flusses die pastellfarbenen Häuser der polnischen Uferpromenade Ulica Daszynskiego. Früher ein zwielichtiger Ort, den die Görlitzer nur zum schnellen Kauf billiger Zigaretten aufsuchten, werden heute in den Restaurants der restaurierten Meile polnische Spezialitäten wie Piroggen, Blini mit Speck und Bigos serviert. Der Name der ältesten Gaststube dort lautet „Przy Jakubie – Beim Jakob“und nimmt damit Bezug auf Jacob Böhme (1575 bis 1624). Der Schuhmacher und Philosoph hatte im Haus nebenan seine Wohnung und Werkstatt. Obwohl er ein einfacher Handwerker war, gilt Böhme als einer der bedeutendsten und sprachmächtigsten Autoren der christlichen Mystik. Seine letzte Ruhestätte hat der berühmte Sohn der Stadt auf dem Nikolaifriedhof gefunden, Görlitz' ältester Friedhof, der bereits im 12. Jahrhundert genutzt wurde. Mehr als 700 Gräber aus der Zeit von 1600 bis 1850 sind auf dieser weiten Trost- und Trauerlandschaft versammelt. Verwitterte Steine, efeuumrankte Engel und kunstvoll eingravierte Inschriften machen ihn zum wohl geruhsamsten Ort der Stadt. Dieser Eindruck verstärkt sich erst recht, wenn man den zarten Namen einer Frau liest, die hier bestattet wurde: Minna Herzlieb – das Minchen von Goethe. „Ich habe sie als Kind von acht Jahren zu lieben angefangen, und in ihrem sechzehnten liebte ich sie mehr als billig”, schwärmte der Weimarer Dichter von Minna, als er selbst schon weit in seinen 50ern war. Seine Liebe wurde allerdings nicht erwidert. Geblieben sind von seiner Leidenschaft Gedichte, die das Herzliebchen bezirzen sollten, und die Figur der Ottilie, mit der er seiner Muse ein literarisches Denkmal setzte. Nun also auch noch Romantik auf dem Friedhof, als wirkte Görlitz in der Gesamtschau nicht ohnehin schon sehr eindrucksvoll auf einen: eine deutsch-polnische Doppelstadt mit reicher Geschichte und ein Magnet für Hollywood-regisseure und Kulturtouristen.
Die Stadt ist aber nicht fehlerfrei. Ihre Unvollkommenheit lässt sich sogar messen: Sie liegt exakt auf dem 15. Meridian, der Längengrad, der die Mitteleuropäische Zeit definiert. Zur Erinnerung kennzeichnet ganz in der Nähe der Stadthalle der sogenannte Meridianstein, ein Globus aus Lausitzer Granit, den Längengradverlauf, leider an der falschen Stelle. Moderne Gps-messungen ergaben, dass sich der Meridian fast 140 Meter weiter unterhalb entlangzieht. Der Zeit ist das egal, sie macht, was sie am besten kann – sie vergeht und lässt dem Stein ein Fell aus Moos und Algen wachsen. Und Görlitz? Bleibt eine facettenreiche Stadt und hat sich auf der Weltkarte der schönsten Orte allemal eine Markierung verdient.
Jacob Böhme fand in Görlitz seine letzte Ruhestätte.