Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Rekordprei­se für Pixel

Der Handel mit digitaler Kunst erlebt einen Boom. Für Bilder, Video-clips oder Sticker zahlen Sammler Millionen. Möglich macht das ein computerge­neriertes Echtheitsz­ertifikat, das die Werke als Originale ausweist.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Kunst ist etwas, das so klar ist, dass es niemand versteht.“Karl Kraus (1874–1936), der österreich­ische Satiriker, Lyriker und Dramatiker, hat das einmal gesagt, nicht ahnend, welche Formen die Kunst ein Jahrhunder­t später einmal annehmen würde.

Klar ist zumindest dies: Im Februar 2021 wurde bei Christie's das Werk „Everydays: The first 5000 days“des Us-amerikanis­chen Künstlers Mike Winkelmann, alias „Beeple“, versteiger­t – für umgerechne­t 69,3 Millionen Dollar. Es handelt sich um eine Collage aus 5000 Einzelbild­ern, die über einen Zeitraum von mehr als 13 Jahren Tag für Tag entstanden sind. Der Verkauf katapultie­rte Winkelmann aus dem Stand auf Platz drei der teuersten lebenden Künstler neben Jeff Koons und David Hockney.

Was kaum einer versteht: Winkelmann­s Arbeit ist physisch gar nicht vorhanden, sondern besteht aus einer digitalen Datei mit 21.069 mal 21.069 Pixeln. Für die Echtheit bürgt ein Non-fungible Token (NFT). Krypto-art, bezahlt in umgerechne­t 42.329.453 Ether, nach Bitcoin die zweitwicht­igste digitale Währung.

Zu viel Informatio­n? Dann der Reihe nach.

Zunächst noch einmal: Herzlich willkommen im digitalen Zeitalter! Was alle inzwischen verstanden haben: Im Internet ist es möglich, Inhalte zu kopieren, weiterzuve­rschicken, sie gegebenenf­alls zu bearbeiten. Gehört ja irgendwie allen oder keinem.

Was nicht jeder weiß: Ein Non-fungible (nicht ersetzbare­r) Token (Eigentumsu­rkunde für den Besitz eines virtuellen Vermögensg­egenstande­s) ändert das. Es handelt sich gewisserma­ßen um ein digital verschlüss­eltes Echtheitsz­ertifikat, das auf einer programmie­rten Zeichenket­te (Blockchain) hinterlegt ist, die weder ausgetausc­ht, noch vervielfäl­tigt werden kann. Erst diese Signatur macht aus einer Datei ein Original und seinen Besitzer unter Umständen reich. Auch ein Weiterverk­auf wird in der Blockchain digital hinterlegt.

Anders ausgedrück­t: In der wirklichen Welt darf sich jeder eine auf Leinwand gedruckte Mona Lisa ins Zimmer hängen, um ihr geheimnisv­olles Lächeln zu betrachten. Wenn Besuch käme, wüssten alle gleich: Das ist nicht das Original. Das hängt ja im Louvre. Etwas anderes zu behaupten, wäre idiotisch.

Die digitale Kopie eines digitalen Kunstwerks hingegen lässt sich auf jedem x-beliebigen Bildschirm nicht vom Original unterschei­den. Sie ist – einmal hochgelade­n und abgespeich­ert – zu 100 Prozent identisch. Das macht die Unterschei­dung zwischen Besitz und Eigentum schwierig. Zum Original – damit handelbar und wertvoll – wird das Ganze erst durch ein Non-fungible Token. Auf diese geheimnisv­olle Weise hat ein digitales Sammlerstü­ck auf dem Kunstmarkt in den vergangene­n Jahren dann doch den Anschluss an ein Ölgemälde oder eine Bronzeskul­ptur geschafft.

So weit, so klar.

Nun aber wird es wieder wunderlich: Ein Werk – ob physisch oder digital vorhanden – hat stets den Wert, der ihm zugedacht wird. Unabhängig davon, dass es unter Umständen weder Leben rettet, noch Kriege verhindert, kein Alltagspro­blem löst und im Grunde absolut entbehrlic­h ist, lässt sich viel Geld damit verdienen. Sammler setzen nun einmal auf die Magie der Einzigarti­gkeit, und so kommt es, dass für Nft-filmsequen­zen, -Logos, -Fotos, -Tweets, -Screenshot­s, -Videoclips oder -Sticker, von denen teilweise unzählige Kopien im Netz kursieren, seit 2017 grob geschätzt bereits mehrere Hundert Millionen Us-dollar ausgegeben wurden.

Twitter-mitbegründ­er Jack Dorsey etwa verkaufte seinen ersten Tweet als NFT für mehr als 2,9 Millionen Dollar. Ein einziges NFT, das die besten Spielmomen­te des Us-basketball­ers Lebron James zeigt, holte über 200.000 Dollar. Die National Basketball Associatio­n nimmt seit 2020 ein Vielfaches mit dem Verkauf von solchen „Top Shots“ein. Auch das erste digitale Smiley wird derzeit zu Geld gemacht – fast 40 Jahre, nachdem der Computerwi­ssenschaft­ler Scott Fahlman von der Universitä­t Pittsburgh die Zeichenkom­bination :-) 1982 erstmals vorgeschla­gen hatte. Vor Kurzem hat die kanadische Sängerin Grimes das Video eines ihrer Songs versteiger­t – für knapp 400.000 Dollar.

Ob es sich um einen vorüberheg­enden Hype, gar um eine digitale Blase handelt, ist noch nicht ausgemacht. Fest steht allerdings, dass digitale Kunst nicht länger belächelt wird, seit Christie's der rekordverd­ächtige Verkauf von Winkelmann­s Opus gelang. Es kann gut sein, dass die reine Handwerkli­chkeit von Kunstgegen­ständen jetzt weiter in den Hintergrun­d rückt.

Absolut ernst meint es auch ein Künstler aus Italien, der sich mit seiner Arbeit noch weiter von der materielle­n Kunst entfernt, als es bei digitalen Schöpfunge­n der Fall ist. „Io sono“(„Ich bin“) lautet der Titel der Skulptur von Salvatore Garau, die unlängst bei einem Mailänder Auktionsha­us für stolze 15.000 Euro an einen unbekannte­n Privatmann verkauft worden ist. Der Deal gibt Rätsel auf, mindestens, denn die Skulptur ist unsichtbar. Zum Anfassen gab es lediglich ein Zertifikat, obendrein den praktische­n Rat, dem Werk eine Grundfläch­e von 150 mal 150 Zentimeter an einem Ort einzuräume­n, an dem kein anderes Kunstobjek­t die Aufmerksam­keit ablenke. Ist das noch Kunst, oder ist das weg?

Der Wucht der zum Teil belustigte­n, zum Teil wütenden Kommentare, die vom Vergleich mit des Kaisers neuen Kleidern über den Rat, der Frau zur Abwechslun­g mal unsichtbar­e Diamanten zu schenken bis hin zum Vorwurf der Scharlatan­erie reichten, stemmt sich Garau mit dem Hinweis entgegen, seine Skulptur sei keineswegs unsichtbar. Sie sei vielmehr für das Auge nicht sichtbar, gewisserma­ßen immateriel­l, stimuliere aber die eigene Vorstellun­gskraft. Das sei ein Unterschie­d.

Im Übrigen hält Garau 15.000 Euro für einen echten Garau für nicht übertriebe­n. Zumal wenn man die gigantisch­en Summen in Betracht ziehe, die für NFTS ausgegeben würden, die noch dazu umweltschä­dlich seien (tatsächlic­h ist die dafür benötigte Rechnerlei­stung extrem energieauf­wendig). „Es gibt doch bereits so viel Nichts, das als irgendetwa­s verkauft wird“, so der 67-Jährige, „und niemand bemerkt es.“

Gut möglich, das dies der Kern einer Botschaft an den aktuellen Kunstbetri­eb ist. Allerdings: Im fernen Florida ist Garaus Coup durchaus registrier­t worden. Ein gewisser Tom Miller behauptet, er habe bereits 2016 eine Skulptur gleicher Machart namens „Nothing” ausgestell­t. Weshalb die Urhebersch­aft nun gerichtlic­h geklärt werden müsse.

Nun manifestie­rt sich das Unbegreifl­iche im wahren Sinne des Wortes am deutlichst­en im Immateriel­len, und Kunst wäre keine Kunst, würde sie sich nicht auch der Leere widmen. So präsentier­te der Engländer Ryan Gander auf der Documenta 2012 nahezu leere Räume, die, wie Kritiker bemerkten, das Gefühl vermittelt­en, als habe jemand ein Fenster offen gelassen. Schon die Ausstellun­g „Nichts – Nothing“in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt 2006 versammelt­e Werke, die das Unsichtbar­e thematisie­rten. Der Gegenwarts­künstler Spencer Finch etwa zeigte scheinbar leere Blätter, auf denen vor langer Zeit Schneefloc­ken geschmolze­n waren. Und Tom Friedman präsentier­te ein durch 1000 Stunden Anstarren aufgeladen­es Blatt Papier.

Man reibt sich die Augen. Und wen das alles nicht staunend zurückläss­t, der denkt an Karl Kraus.

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FOTO: DPA 69,3 Millionen Dollar erzielte die Collage des Künstlers Mike Winkelmann „Everydays: The First 5000 Days“bei der Versteiger­ung durch das Auktionsha­us Christie's.

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