Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Wenn jeder Tag zählt
Kurz nach der Geburt werden Babys auf seltene und schwere Krankheiten untersucht. Ab Oktober ist auch Spinale Muskelatrophie im Testprogramm.
Ich möchte nicht mehr leben – das war der erste Gedanke, der Katrin Schumann durch den Kopf ging, als sie von der Diagnose ihres Sohnes erfuhr: Spinale Muskelatrophie, kurz SMA. Dabei hatte sie schon während der Schwangerschaft eine Ahnung, das etwas mit ihrem Kind nicht stimmen könnte. „Valentin hat sich kaum im Bauch bewegt“, erinnert sie sich. Später, nach der Geburt, lag der Kleine schlaff in seinem Bettchen, die Arme und Beine meist angewinkelt. „Er hatte überhaupt keine Muskelspannung. Aber wir haben das zunächst verdrängt“, erinnert sich der Vater. Trotzdem gingen die Eltern schließlich zum Arzt. Und erhielten fünf Wochen nach der Geburt die erschütternde Nachricht: Valentin ist eines von 6000 bis 10.000 Babys in Deutschland, die jährlich mit Spinaler Muskelatrophie zur Welt kommen.
Unter den seltenen Krankheiten ist SMA eine der häufigsten. Ursache ist ein genetischer Defekt: Es fehlt das Gen, das für die Produktion eines Proteins verantwortlich ist, des Motoneuron-faktors oder SMN1 (für „Survival of Motoneuron“). Der ist überlebenswichtig für die Nervenzellen (Motoneurone) im Rückenmark. Diese steuern Muskeln im ganzen Körper. Bei der SMA bildet der Körper zu wenig oder keinen Motoneuron-faktor. In der Folge sterben die Zellen im Rückenmark nach und nach, die Muskelkraft schwindet. Zwar hat der Mensch noch ein zweites SMN-GEN (SMN2). In der Regel reicht dies aber nicht, um das lebenswichtige Protein in ausreichender Menge herzustellen. Je nachdem, wie viel Motoneuron-faktor durch das zweite Gen ersetzt werden kann, fällt der Schweregrad der Erkrankung aus.
Für betroffene Kinder und ihre Eltern bedeutet die Diagnose eine Katastrophe. Die Krankheit wirkt sich auf alle Muskeln im Körper aus. Krabbeln, Sitzen, Laufen, die Kopfhaltung, das Atmen und Schlucken werden beeinträchtigt. „Bei der schwersten Form versterben rund 95 Prozent der erkrankten Kinder innerhalb der ersten 18 Lebensmonate, wenn sie nicht künstlich beatmet werden“, sagt Wolfgang MüllerFelber. Der Kinder- und Jugendarzt ist auch Neurologe und Psychiater. Er leitet das Motorik-haus am Klinikum der Münchner Universität. Und er ist nun einer der Wegbereiter für die Aufnahme der SMA ins
Neugeborenen-screening. Ab Oktober wird die spinale Muskelatrophie eine von 16 schweren Erkrankungen im bundesweiten Früherkennungsprogramm sein.
Für alle Betroffenen ist das ein großer Gewinn. Denn für die Therapie fast aller schweren Erkrankungen, und ganz besonders bei der SMA, ist Zeit der alles entscheidende Faktor: „Time ist Motoneuron“, fasst Müller-felber zusammen: Je eher die Behandlung beginnt, desto besser sind die Entwicklungschancen des Neugeborenen. „Im Idealfall beginnt die Therapie, noch bevor sich erste Symptome der Erkrankung zeigen“, sagt Müller-felber. Er ist wissenschaftlicher Leiter der Pilotstudie zum Sma-screening. Bei etwa 15 Prozent der betroffenen Kinder treten diese aber bereits in den ersten vier Lebenswochen auf. Es zählt also jeder Tag.
Von der Untersuchung selbst bekommt das Neugeborene kaum etwas mit. Kurz nach der Geburt wird ihm ein Tropfen Blut aus der Ferse entnommen. Dieses wird mit etablierten molekularbiologischen Verfahren auf hormonelle Störungen und Stoffwechselkrankheiten getestet – allesamt sehr schwerwiegende Erkrankungen, darunter auch Mukoviszidose und Phenylketonurie. Im Fall der SMA ist die Diagnose schnell zu stellen: Das Fehlen des SMN1-GENS ist klar erkennbar.
Ist die Diagnose sicher bestätigt, kann – unter enger Begleitung und Betreuung der Eltern und Beteiligung verschiedener medizinischer Fachbereiche – die Therapie zügig beginnen. Insgesamt drei Arzneien sind auf dem europäischen Markt für die Behandlung zugelassen. Sie setzen an zwei Stellschrauben an: Das verbesserte Auslesen des Ersatzgens SMN 2 bewirken die Medikamente Risidplam (Roche) und Nusinersen (Biogen, Ionis Pharmaceuticals). Ein anderer Weg ist die Genersatztherapie. Sie behebt auf einen Schlag die Ursache der SMA. Denn es wird mit Hilfe eines Vektors eine intakte Kopie des fehlenden Gens verabreicht. Das neue Gen baut sich im Zellkern in die Erbsubstanz ein, die Körperzellen beginnen dann mit der Produktion des funktionierenden Motoneuron-faktors. Die Firma Novartis hat mit Zolgensma einen Vertreter dieser Therapieart auf den Markt gebracht.
Beginnt die Behandlung früh, haben betroffene Kinder eine echte Chance auf ein Leben in Mobilität. Jene, die noch vor dem Auftreten der Symptome therapiert wurden, erreichten in Studien bisher normale „motorische Meilensteile“, wie Müller-felber sie nennt: Sitzen, Krabbeln, Stehen und sogar selbstständig Laufen wurden für sie möglich. „Aber auch wenn die Therapie erst nach Auftreten der Symptome beginnt, lassen sich positive Entwicklungen beobachten“, betont Müller-felber.
Inge Schwersenz hätte wohl alles dafür gegeben, wäre die SMA schon vor Jahren ins Neugeborenen-screening aufgenommen worden. Die Ärztin im Ruhestand brachte zwei Kinder mit SMA zur Welt. Ihr erster Sohn wurde 1981 geboren. „Erst als er zwei Jahre alt war, fiel uns auf, dass er sehr oft stürzte, nicht gut rennen und keine Treppen laufen konnte“, erinnert sie sich. Es folgte eine medizinische Odyssee. Als die Eltern schließlich die Diagnose bekamen, war ihr zweiter Sohn bereits sechswochen alt:„es stellte sich dann heraus, dass er auch SMA hatte, und zwar in ihrer schwersten Form. In diesem Moment bricht eine Welt zusammen.“
Viereinhalb Jahre kämpften der Junge und seine Familie. „Bis zu zehnmal in der Nacht aufstehen, Schleim absaugen, dazu Kämpfe mit Behörden und Kassen. Das alles war zermürbend“, schildert Schwersenz. Eines Tages war alle Kraft aufgebraucht, der Sohn starb an einer Lungenentzündung.
Der ältere Bruder hatte die leichtere Form der SMA, er konnte die ersten Lebensjahre sogar laufen. „Wir haben ihn dann aber im Rollstuhl eingeschult“, so Schwersenz. Er hat an der Regelschule Abitur gemacht, Informatik studiert und arbeitet heute in Vollzeit. „Trotzdem braucht er für die alltäglichen Dinge des Lebens Hilfe, und die Kraft in Händen und Armen hat in den vergangenen zehn Jahren schon nachgelassen“, so die Mutter.
Für sie sei die Aufnahme der SMA in das Screening ein „sehr emotionaler Moment“, sagt Schwersenz. Sie engagiert sich seit Jahren für die Forschung und Therapie der SMA. Die Aussicht, dass diese schwere Krankheit künftig ihren Schrecken ein großes Stück weit verlieren kann, tröstet sie. Und auch Müller-felber ist davon überzeugt: „Die SMA in der schweren Form, wie wir sie heute kennen, wird es künftig nicht mehr geben.“
Valentin konnte noch nicht vom Screening auf SMA profitieren. Dank seiner aufmerksamen Eltern und der Ärzte wurde bei ihm die Krankheit trotzdem recht früh erkannt und therapiert. Er ist heute zwei Jahre alt, sitzt auf dem Schoß der Eltern und schaut interessiert in die Kamera. Er, und vor allem alle Kinder, die ab dem 1. Oktober geboren werden, haben großes Glück.
„Auch wenn die Therapie erst nach Auftreten der Symptome beginnt, lassen sich positive Entwicklungen beobachten“Wolfgang Müller-felber Kinder- und Jugendarzt