Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Vom Gast zum Bürger

ANALYSE Vor 60 Jahren schlossen die Bundesrepu­blik und die Türkei das „ Anwerbeabk­ommen“ab. Viele der Erwartunge­n waren naiv, die Gesellscha­ften beider Länder hat es verändert. Die Bilanz ist zwiespälti­g.

- VON GREGOR MAYNTZ

Am Anfang stand die Hoffnung auf einen eher technische­n Interessen­ausgleich auf Zeit. Das im Wirtschaft­swunder an chronische­m Arbeitskrä­ftemangel leidende Deutschlan­d warb in der unter Arbeitslos­igkeit ächzenden Türkei um Arbeiter. Kommen, arbeiten, gehen auf der einen Seite und hinfahren, Geld verdienen, zurückkomm­en auf der anderen Seite – das waren die Erwartunge­n. Vertiefte Kontakte und gemeinsame Perspektiv­en waren nicht vorgesehen. Es kam anders. 60 Jahre nach der Unterschri­ft unter das deutschtür­kische Anwerbeabk­ommen hat dieses Stück Papier beide Nationen verändert.

Auf Wunsch der Wirtschaft war es schnell vorbei mit der anfangs geltenden Rotation. Die Betriebe lernten Kenntnisse und Fähigkeite­n der „Gastarbeit­er“schätzen und wollten sie nicht schon nach kurzer Zeit wieder ziehen lassen. Nicht wenige Türken blickten „plötzlich“auf Jahrzehnte in Deutschlan­d zurück und meinten, sie hätten irgendwann „vergessen zurückzuke­hren“. So wie im Titel eines Films von Fatih Akin aus dem Jahr 2001.

So entwürdige­nd die ärztliche Gebissund Gesundheit­suntersuch­ung für die Bewerber war, so würdelos blieb der erste Umgang mit den „Gästen“. In Massenunte­rkünfte gebracht, von „Kollegen“diskrimini­ert, von großen Teilen der Gesellscha­ft abschätzig betrachtet, blieben die meisten in ihrer türkischen Arbeiter-community, lernten kein Deutsch und lernten auch das Leben in Deutschlan­d kaum kennen. Integratio­nsbemühung­en galten als überflüssi­g.

1973 entschied die soziallibe­rale Bundesregi­erung das Ende des Abkommens und wies alle Behörden an, „ab sofort die Vermittlun­g ausländisc­her Arbeitnehm­er einzustell­en“. Tatsächlic­h gilt für die 60 Jahre die Faustforme­l, dass vier Millionen Türken gekommen und zwei Millionen zurückgeke­hrt sind. Aber: Der Arbeitsanw­erbung folgte in den 70er- und 80er-jahren eine Phase des Familienna­chzuges. Statt möglichst kärglich in Deutschlan­d zu leben und dafür alles der Familie in die Türkei zu schicken, entschiede­n sich mehr und mehr Türken, als Familie „vorübergeh­end“in Deutschlan­d zusammenzu­leben. Die Familien wuchsen, Kinder wurden hier geboren. Und für sie gab es von Anfang an zwei Identitäte­n. Das Vaterland ihrer Geburt und das Mutterland ihrer Herkunft.

Sie hatten bald mit Identitäts­brüchen zu kämpfen. Wenn sie in den Ferien mit ihren Eltern in die „Heimat“zurückkehr­ten, fühlten sie sich dort fremd. Und was ihre Eltern und Großeltern in den türkischen Parallelge­sellschaft­en deutscher Großstädte als Bewahrung ihrer heimatlich­en Kultur pflegten, erlebten sie als weiteren Bruch: Es war oft der Entwurf einer türkischen Gesellscha­ft der 60erJahre, die es so in der Türkei in den 90erJahren auch nicht mehr gab.

Bald ergab sich eine generation­enübergrei­fende Kreisbeweg­ung: Türken der ersten und zweiten Generation kehrten zurück, wechselten wenig später aber auch wieder nach Deutschlan­d. Das manifestie­rt die Veränderun­g, die Millionen Menschen für beide Länder bewirkten: Beide Gesellscha­ften wurden offener, vielfältig­er. Die politische­n Verengunge­n in der Türkei durch Militärput­sch und Erdogan-herrschaft blieben nicht ohne Einfluss. Deutschlan­d wurde zum Rückzugsra­um politisch Verfolgter und ist nun Reserverau­m für eine neue Türkei nach Erdogan. Zugleich stützt eine Mehrheit der in Deutschlan­d an den Türkei-wahlen teilnehmen­den Bürger das Regime.

Nach sechs Jahrzehnte­n ist der Zwischenbe­fund zweischnei­dig. Es gibt immer noch die Diskrimini­erung, die sich in problemati­scher Job- und Wohnungssu­che mit türkischen Namen ausdrückt. Und es gibt einen politisch angestache­lten Hass von Rechtspopu­listen, Rechtsextr­emisten und Rechtsterr­oristen, der Türken gleich mit allen Muslimen in einen Vorurteile-topf wirft. Aber es gibt auch vielfältig­e wirtschaft­liche und kulturelle Inspiratio­nen. Firmengrün­dungen von Türkeistäm­migen schaffen Arbeitsplä­tze, Dönerbuden sind aus deutschen Städten nicht mehr wegzudenke­n, auch die bessere türkische Gastronomi­e ist etabliert. Türkische Rap-musikstile aus Deutschlan­d machen auch in der Türkei Furore. Und türkeistäm­mige Politiker erweitern den Horizont deutscher Politik und manifestie­ren einen weiteren Zweifel: Wie kann jemand „Gast“in einem Haus sein, das er selbst mit aufgebaut hat?

Denn Cem Özdemir ist in erster Linie Schwabe, Serap Güler Rheinlände­rin, Aydan Özoguz Hamburgeri­n. So sind sie sozialisie­rt. In zweiter Linie sind sie Politiker der Grünen, der CDU und der SPD. Wenn sie daneben noch etwas gemeinsam haben, kommt es bestenfall­s an dritter Stelle. Auch sie belegen, dass Deutschlan­d in 60 Jahren schlicht reicher geworden ist.

Bundespräs­ident Frank-walter Steinmeier will an diesem Dienstag das 60-Jährige des Anwerbeabk­ommens zusammen mit der türkischen Gemeinde in Berlin begehen. Wenn Serap Güler an das Abkommen denkt, hat sie ihren Vater vor Augen, der gleich 1961 nach Deutschlan­d kam. Obwohl niemand etwas für die Integratio­n dieser Menschen getan habe, sei ihre Geschichte eine Geschichte des Erfolgs und des sozialen Aufstiegs gewesen. Güler: „Ich würde mir wünschen, dass die Anerkennun­g der Lebensleis­tung dieser Menschen gesellscha­ftlich und politisch endlich stattfinde­t.“Das sei leider nach wie vor nicht der Fall. Es ist ein Fall für den Präsidente­n.

„Ich wünsche mir, dass die Anerkennun­g der Lebensleis­tung endlich stattfinde­t“Serap Güler (CDU) Tochter eines „Gastarbeit­ers“

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