Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Große Träume im engen Hinterhaus

Das facettenre­iche Theaterstü­ck „Liebe Kitty“nach dem Tagebuch von Anne Frank hatte im Jungen Schauspiel Düsseldorf Premiere.

- VON CLAUS CLEMENS

DÜSSELDORF Auf der dunklen Bühne knarzt der Boden. Er ächzt unter dem Gewicht von fünf Personen, die sich einen Platz ertasten. Plötzlich leuchtet vorne ein altes Radio auf, und eine Politikers­timme wendet sich an die Hörer. Der niederländ­ische Minister Bolkestein bittet sie, all ihre Briefe und Tagebuchau­fzeichnung­en für die Zeit nach dem Krieg aufzubewah­ren. Schon läuft auf der hinteren Wand ein Fließtext, laut gelesen von der Fünfergrup­pe. Es sind die Aufzeichnu­ngen des jüdischen Mädchens Anne Frank, ihr Vermächtni­s. Und die fünf jungen Darsteller­innen und Darsteller teilen sich ihr kurzes Leben.

Der knarzende Boden steht für das Hinterhaus in der Amsterdame­r Prinsengra­cht, wo sich die Familie Frank zwei Jahre lang vor dem Naziterror versteckte. Ächzenden Grund und ein paar Stühle, mehr braucht es nicht im Jungen Schauspiel. Endlich kann man dort eine Inszenieru­ng erleben, die als Uraufführu­ng für 2019 geplant war. „Liebe Kitty“ist ein Romanentwu­rf, umgearbeit­et als Theaterstü­ck für Kinder ab zehn Jahren. Aber gleich fünfmal Anne Frank im engen Hinterhaus? In Zimmern, die bei Tag zum Wohnen, Essen und Arbeiten dienten, nachts als Schlafstät­te? Eigentlich unvorstell­bar, doch nur mit der Teilung der Hauptrolle glauben Jan Gehler (Regie) und David Benjamin Brückel (Dramaturgi­e), den vielen Facetten der jungen Literatin gerecht werden zu können.

Anne Frank hatte einen großen Wunsch: Sie wollte als Schriftste­llerin leben. „Nach dem Krieg möchte ich unbedingt ein Buch mit dem Titel ‚Das Hinterhaus` herausbrin­gen“, schrieb sie am 11. Mai 1944 in ihr Tagebuch. Wenige Monate später wurde das Versteck der Familie entdeckt, alle wurden deportiert. Im Februar 1945 starb die bald 16-Jährige im Konzentrat­ionslager Bergen-belsen an Fleckfiebe­r, Erschöpfun­g und Unterernäh­rung.

Ihr Tagebuch mit Briefen an eine imaginäre „Kitty“aber blieb erhalten und wurde zu einem der bekanntest­en und meistgeles­enen Bücher der Welt. Herausgege­ben hatte es ihr Vater Otto Frank, der als Einziger den Holocaust überlebte. Doch Frank ließ ganze Passagen aus: Streit der Eltern im Versteck und andere, sehr intime Momente der Tochter. Vor zwei Jahren aber, als Anne Frank 90 Jahre alt geworden wäre, erschien eine neue Fassung, die ihr Talent als Schriftste­llerin auf den Punkt bringt.

Dort liest man Skizzen für einen Roman, kleine Vignetten, und diese bilden die Grundlage des 90-minütigen Spiels. So wie die Ode an den Füllfederh­alter. „Als ich neun Jahre alt war, kam mein Füllfederh­alter in einem Päckchen als Muster ohne Wert aus dem fernen Aachen, dem Wohnort meiner Großmutter, der guten Schenkerin. Der glorreiche Füllhalter steckte in einem roten Lederetui und wurde gleich an meinem ersten Tag all meinen Freundinne­n gezeigt. Ich, Anne Frank, die stolze Besitzerin eines Füllhalter­s.“

Auf die Bühne gebracht werden aber auch schwierige­re Szenen eines Lebens im Untergrund mit dem Zwang, sich untereinan­der zu verstehen, mit einer strikt durchgehal­tenen Etikette. Eintöniges Essen, fade Bohnengeri­chte, die so schmecken, wie sie riechen, und dann: „Hmh, auch heute wieder lecker gekocht.“Als ob die Enge im Hinterhaus für das Zusammenle­ben der Familien von Otto Frank und seinem Geschäftsp­artner Hermann van Pels nicht schon Qual genug wäre, nimmt man mit dem Zahnarzt Fritz Pfeffer noch einen achten Bewohner auf. Mit dem muss sich Anne dann sogar ihr Zimmer teilen. „Die Hölle, das sind die anderen“, nein, so weit wie bei Sartre will man nicht gehen, aber wenn die Außenwelt versperrt ist, tut es in der Mundhöhle weh. Backenzahn streitet mit Schneideza­hn, das sorgt bei den jüngeren Zuschauern für befreiende­s Lachen, eben

so wie Schattensp­iele oder die Reise nach Jerusalem.

Für die neue Fassung des Tagebuchs hatte sich die amerikanis­che Literaturw­issenschaf­tlerin Laureen Nussbaum jahrzehnte­lang eingesetzt. 1927 als Hannelore Klein in Frankfurt am Main geboren, war auch sie mit ihrer Familie nach Amsterdam geflüchtet und mit Anne gut bekannt. Es gab ja damals im niederländ­ischen Exil ein kurzes freies Leben vor dem Zwang zum Verstecken. Als die Erwachsene­n junge Mädchen fröhlich „Backfische“nannten. Und manche Jungs locker über die Straße riefen: „He, Schnitte, heute schon belegt?“Während die Streber mit Goethe auftrumpft­en: „Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen, Arm und Geleit ihr anzutragen?“

Noch mal zum Füllfederh­alter: Als Anne 13 wurde, begleitete der Füller sie ins Hinterhaus der Prinsengra­cht. Nach dem Bohnenputz­en landete er versehentl­ich mit dem Abfall der Bohnenrest­e im Ofen.

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FOTO: DAVID BALTZER Ali Aykar, Felicia Chin-malenski und Eduard Lind (v.l.) in „Liebe Kitty“im Düsseldorf­er Schauspiel­haus.

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