Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Mit Kurz ist noch zu rechnen
ANALYSE Österreichs Bundeskanzler hat im Zuge der Korruptionsaffäre seine erste große Niederlage erlitten – seine zynische Politik hat die Partei verstört, und er hat die Grünen unterschätzt. Aber entmachtet ist er nicht, im Gegenteil. Das Wunderkind der
Wie schwer ihm der Abgang gefallen sein muss, illustriert ein Rückblick in die vergangenen drei Tage. Am Freitag rief Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz noch extra zu einer Pressekonferenz, dramaturgisch geschickt zur Zeit der Fernseh-hauptnachrichten um 19.30 Uhr. Zu ihrer Überraschung erfuhren die Journalisten dort nichts Neues, nur dass Kurz sich nach wie vor für unschuldig halte und „selbstverständlich“Kanzler bleibe.
Am Samstag trat Kurz zur gleichen Zeit wieder vor die Presse. Diesmal verkündete er tatsächlich, dass er „zur Seite trete“und Außenminister Alexander Schallenberg auf seinen Wunsch der neue Kanzler sein solle. Das Wort Rücktritt kam ihm nicht über die Lippen, wohl aber das übliche Selbstlob: Er wolle Österreich „Monate des Chaos und Stillstands“ersparen, ihm sei „das Land wichtiger als meine Person“. Kurz beherrscht die Taktik perfekt, sich als Lösung für Probleme anzubieten, die er selbst verursacht hat.
Zuvor waren Ermittlungen der Korruptionsstaatsanwaltschaft ( WKSTA) gegen ihn wegen Untreue, Bestechung und Anstiftung dazu bekannt geworden. Kurz soll ab 2017 mit 1,2 Millionen Euro Steuergeld seinen politischen Aufstieg mit gekauften Umfragen und Jubelberichten in Massenmedien finanziert haben. Der damalige Generalsekretär im Finanzministerium, Thomas Schmid, war laut WKSTA die „zentrale Person“für Kurz' Karrierepläne. Jüngst wurden bei Razzien im Kanzleramt, im Finanzministerium und in der Parteizentrale der konservativen ÖVP, deren Vorsitzender Kurz ist, massenhaft Unterlagen beschlagnahmt.
Seine Rechtfertigungen auf die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft trug Kurz am Samstag mit gerötetem Gesicht und für seine gewohnte Eloquenz erstaunlich stockend vor. Den Gossenslang in den von der WKSTA sichergestellten Chats würde er heute nicht mehr gebrauchen, das sei ihm „in der Hitze des Gefechts“passiert. Und er fügte hinzu: „Ich bin auch nur ein Mensch mit Emotionen.“Allerdings trug er damals anders als die Stammtischbrüder als Außenminister und ÖVP-CHEF politische Verantwortung.
Kurz hat das Kanzleramt nicht freiwillig geräumt. Aus dem Övp-umfeld verlautet, dass die Chats innerparteilich helle Empörung ausgelöst haben. Grund ist nicht nur die Fäkalsprache zwischen Kurz und seinem juvenilen Parteiflügel, der sich ein flottes Türkis als Parteifarbe zugelegt hatte und den Anspruch einer „neuen ÖVP“erhob; vor allem ist es sein Machtzynismus, der die Parteigranden erschreckt. Aber bis vor wenigen Tagen wollte man in Kurz nur den Retter sehen, der die Volkspartei mit zwei Wahlerfolgen vor dem endgültigen Absturz bewahrt habe.
In einem Chat-austausch unterhalten sich beispielsweise Kurz und sein engster Gefolgsmann Schmid über den Weg zur Eroberung des Kanzleramts („Projekt Ballhausplatz“). Zitat Schmid: „Wir sind auf der Blutwiese.“Die damalige rot-schwarze Koalition wurde systematisch schlechtgeredet, ihre Vorhaben wurden sabotiert, um eine Neuwahl zu erzwingen. Weil sich der damalige ÖVP-CHEF und Kurz-rivale Reinhold Mitterlehner mit den Sozialdemokraten der SPÖ über ein milliardenschweres Sozialprogramm geeinigt hatte, wird er von Schmid als „Oarsch“beschimpft. Kurz wiederholt die Injurie in seiner Chat-antwort und erkundigt sich zugleich: „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“Tatsächlich haben dann schwarze Landeschefs gegen das Programm gestimmt. So viel zur Beteue
Vita Sebastian Kurz wurde 1986 in Wien geboren, machte 2004 sein Abitur und begann nach seinem Dienst beim Bundesheer ein Jurastudium, das er nicht abschloss.
Politik Von 2009 bis 2017 stand er der Jugendorganisation der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) vor. Mit 27 Jahren wurde er nach der Nationalratswahl 2013 jüngster Außenminister der österreichischen Geschichte. 2017 wurde er Chef der ÖVP und schnitt sie auf seine Person zu; zur Wahl trat die Partei als „Liste Sebastian Kurz – die neue Volkspartei“an. Im Dezember 2017 bildete Kurz eine Koalition mit der FPÖ, die durch die Ibiza-affäre 2019 zerbrach. Die Neuwahl brachte das bis heute regierende Bündnis aus ÖVP und Grünen.
Stil Der Aufstieg von Kurz ist eng mit seinem kleinen Team aus absolut loyalen Vertrauensleuten verbunden. Die „Familie“, wie sie sich in den aufgetauchten Chats nannte, besteht aus dem Zirkel, gegen den nun ermittelt wird, sowie einigen weiteren Getreuen. rung von Kurz, wonach es nicht um ihn gehe, sondern nur um Österreich.
Ein weiterer Grund, warum Kurz „zur Seite treten“musste: Er und die ÖVP haben die mitregierenden Grünen, die fast zwei Jahre lang stillgehalten haben, um die Koalition nicht zu gefährden, taktisch unterschätzt. Grünen-chef und Vizekanzler Werner Kogler, der sein notorisches Zaudern mit krachledernem Charme überspielt, ist in dieser Regierungskrise zu staatsmännischer Hochform aufgelaufen und stellte die ÖVP vor die Wahl: Entweder setze sie Kurz ab und ernenne eine „untadelige Person“zu dessen Nachfolger, oder die gemeinsame Regierung falle auseinander. Die ÖVP musste erkennen, dass Kogler notfalls die Koalition opfern würde, und gab nach; der Erhalt des Kanzleramts war ihr lieber – für Kurz die erste und zugleich schwerste innerparteiliche Niederlage, auch wenn er selbst den Eindruck erweckt, er trete freiwillig zurück. Jedenfalls scheint die konservativ-grüne Koalition vorerst gerettet; der für Dienstag geplante Misstrauensantrag der Opposition gegen ihn und die ÖVP ist damit hinfällig.
Aber Kurz ist nicht entmachtet, im Gegenteil: Er bleibt Övp-obmann und wird Fraktionschef. Die Opposition argwöhnt, das „System Kurz“sei nicht beseitigt; als Partei- und Fraktionschef kann er nach wie vor Fäden ziehen, und sein Nachfolger Schallenberg, der sich selbst einen „türkisen Überzeugungstäter“nennt, wird nichts gegen ihn entscheiden. Zudem ist der jüngste Altkanzler als Parlamentarier unerfahren, was zusätzliche Konflikte verspricht.
Offen ist indessen, wie es mit den Ermittlungen gegen Kurz weitergeht. Er selbst will einen Antrag auf Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität stellen, um seine Unschuld beweisen zu können. Bis zu einer Anklage kann es Monate dauern, doch droht ihm vielleicht noch im Herbst ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss. Eine Rückkehr von Kurz ins Kanzleramt schließen die Grünen aus.
„Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“Sebastian Kurz in einem Chat