Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Die Zeit der literarischen Grenzgänger ist da
Der Nationaldichter hat ausgedient. Viele große Autoren haben eine Migrations- und Fluchtgeschichte. Ein Beispiel: Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah.
DÜSSELDORF Als der neue Nobelpreisträger in der „Sparte“Literatur verkündet worden war, gab es zunächst wenig Anerkennung für die Entscheidung. Abdulrazak wer? Die Untertöne waren erwartbar kritisch, wenn ein weitgehend unbekannter Autor mal eben alle liebgewonnenen Spekulationen und Wünsche zerplatzen lässt. Die Vorbehalte dürften erst einmal anhalten, weil die vier Romane von Abdulrazak Gurnah, die bisher ins Deutsche übersetzt wurden, nicht lieferbar sind, die antiquarischen Exemplare flugs vergriffen waren.
Nun ist der Literaturnobelpreis kein Förderinstrument für den Markt und keine Sozialabgabe für notleidende Autoren. Er bleibt einzig der Literatur verpflichtet, dementsprechend diskussionswürdig sind jedes Mal die Entscheidungen der Jury. In der 120-jährigen Geschichte der berühmten schwedischen Auszeichnung aber gibt es – wenn man so will – eine Weltpremiere: Erstmals bekommt ein tansanischer Autor den begehrten Lorbeer, obgleich der auf Sansibar geborene Gurnah 1968 nach Großbritannien flüchtete und seither dort lebt. Ein neuer Staat taucht jetzt also in der Rangliste der NobelpreisNationen auf, die immer irgendwie skurril erscheint und die Literaturehrung zu fortwährenden Olympischen Spielen des Geistes degradiert. Von Interesse ist das Ranking dennoch, das von Frankreich mit 15 Preisträgern angeführt wird – vor den USA (13), Großbritannien (zwölf), Deutschland und Schweden (jeweils acht).
Neben der Frage, wie sinnvoll überhaupt eine solche Liste ist, wird es häufiger als früher erklärungsbedürftig, welchem Land welcher Autor nun zugehörig ist. Denn in die Lebensläufe vieler bedeutender Schriftsteller ist eine Migrationsgeschichte eingeschrieben, manchmal auch eine Fluchtgeschichte. An die Stelle des Nationaldichters tritt immer öfter der Grenzgänger.
Der 73-jährige Gurnah ist in diesem Jahr dann keine Weltpremiere mehr, sondern ein Prototyp. Seine Geschichte sind Erkundungen unserer Identität, sind Protokolle jener Menschen, die ihrer Heimat entrissen wurden, ein neues Leben aufwendig zu gründen suchten und doch entwurzelt blieben, hier wie dort. Gurnah hat es am eigenen Leib erfahren müssen. Er hat davon in seinen Geschichten erzählt und darüber an der University of Kent gelehrt, als Professor für postkoloniale Literatur. Flucht und Migration sind nicht das Schicksal Einzelner, sondern sind zu Grunderfahrungen menschlicher Existenz im 20. und 21. Jahrhundert geworden.
Die Literatur ist ihr Spiegel. In ihren Geschichten, die vom Erlebten ihrer Autoren zehren, fließen Ströme verschiedener Kulturen zusammen. Fast nie kommt es dabei zur Versöhnung der Einflüsse; oft ist es ein Widerstreit, nicht selten endet er in einer Rückbesinnung an die Herkunft. Doch gerade an ihren Konflikten entzündet sich – ungeachtet der so unterschiedlichen Biografien – eine immense Erzählkraft. Zu den Autoren dieser interkulturellen Literatur zählen unter vielen anderen der vor drei Jahren gestorbene Nobelpreisträger V. S. Naipaul, Salman Rushdie, Ismail Kadare und Albert Camus, auch die neue Friedenspreisträgerin Tsitsi Dangarembga und hierzulande der aus Bosnien stammende Deutsche Buchpreisträger Sasa Stanisic, dessen Roman den Titel „Herkunft“trägt.
Es ist bezeichnend, dass mit der Herausbildung der Staaten vor allem in Europa im 18. Jahrhundert auch eine Vorstellung von „Nationalliteratur“geboren wurde. Mit ihr sollten das Land, seine Menschen und seine Sprache einen Ausdruck finden. Als eine Art Aushängeschild. Wir haben eine solche von Beginn an unliterarische Idee bis ins 21. Jahrhundert geschleppt. Zeit also, sich endgültig von ihr zu verabschieden. Gar nicht offiziell. Aber in Büchern. Auch das Werk von Abdulrazak Gurnah wird dabei hilfreich sein.