Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Bei allem Chaos doch liebenswert
Berlin erweist sich oft als unfähig, den Alltag zu regeln. Wird es jetzt besser?
Klar, der Wahlsonntag war an Peinlichkeit nicht mehr zu überbieten. Wenn die Bundeshauptstadt es fertigbringt, dass in Wahllokalen die falschen Stimmzettel ausgegeben werden und Menschen nach Stunden in Warteschlangen entnervt kehrtmachen und nicht wählen gehen, läuft etwas gewaltig schief. Das ist auch mit achselzuckender Gleichgültigkeit oder dem sonst oft herangezogenen Verweis auf Berlins chaotischen Charme nicht zu entschuldigen. Wirklich gewundert hat das aber vor allem Bürgerinnen und Bürger außerhalb Berlins.
Wer in der Stadt lebt, erfährt Verwaltungspannen beinahe alltäglich. Reisepass beantragen? Vielleicht im nächsten Jahr, wenn man keine Zeit hat, stundenlang in Telefonwarteschleifen der Verwaltung zu hängen, um dann zu erfahren, dass es sowieso keine freien Termine gibt. Auto zulassen? Ebenso schwierig. Als Konsequenz gibt es einen Schwarzmarkt für Termine beim Bürgeramt.
Viele Menschen, die bereits einen Reisepass oder einen Personalausweis haben, konnten nun aber trotzdem nicht verreisen. Denn der endlich eröffnete BER wurde – man hat es ja nicht ahnen können – zu Beginn der Herbstferien auf seine erste echte Belastungsprobe seit der CoronaPandemie gestellt. Und prompt brach in der Abflughalle das Chaos aus, die Check-in-schalter waren angeblich mit der Kontrolle von Impfpässen überfordert. Menschen standen teils fünf Stunden in der Warteschlange und verpassten ihren Flug, weil sie ihre Koffer nicht aufgeben konnten. Jetzt warnen Airlines Fluggäste erneut, mindestens vier Stunden vor Abflug am BER zu sein. Typisch Berlin? Wahrscheinlich. Ebenso typisch Berlin ist aber die ungebrochene Liebe zur Stadt, die so schön rau, inspirierend, cool und offen für jede individuelle Freiheit ist. Typisch daher auch das Augenzwinkern und hilflose Lachen, mit dem Berlinerinnen und Berliner von ihren leidvollen Erfahrungen mit der Verwaltung erzählen. Ob mit dem neuen Senat künftig alles besser wird? Wohl kaum. Ist halt Berlin.
Unser Autor ist stellvertretender Leiter des Berliner Parlamentsbüros. Er wechselt sich hier mit unserer Bürochefin Kerstin Münstermann und Elisabeth Niejahr, der Geschäftsführerin der Hertie-stiftung, ab.