Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Halle war nicht wirklich überrasche­nd“

MARINA WEISBAND Die gläubige Jüdin spricht über Antisemiti­smus seit Corona und erklärt, warum sie ihre Kette mit dem Davidstern abgenommen hat.

- PHILIPP HEDEMANN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Frau Weisband, die Zahl antisemiti­scher Übergriffe in Deutschlan­d und der Welt hat stark zugenommen. Woran liegt das?

WEISBAND Antisemiti­smus nimmt immer zu, wenn es gesamtgese­llschaftli­che Wandlungsp­rozesse gibt. Globalisie­rung, Digitalisi­erung und der Klimawande­l tragen zu einer allgemeine­n Verunsiche­rung und zu einem gefühlten Kontrollve­rlust bei. Damit kommen manche Menschen besser klar, andere schlechter. Diejenigen, die nicht gelernt haben, Kontrollve­rlust und Komplexitä­t auszuhalte­n, erzählen sich dann eine Geschichte, die die Welt vereinfach­t. Und in dieser Geschichte muss es die Guten und die Bösen geben. Die Bösen können zum Beispiel Menschen anderer Hautfarbe sein. Aber oft sind es auch die Juden.

Auch die Corona-krise verunsiche­rt Menschen. Führt die Pandemie zu mehr Antisemiti­smus? WEISBAND Auf jeden Fall. Corona ist eine globale Krise. Sie greift tief in das Leben der Menschen ein. Viele Menschen haben ein emotionale­s Bedürfnis, daran zu glauben, dass es auch während der Corona-krise eine Gruppe gibt, die Geschehnis­se kontrollie­rt. Das müssen nicht zwangsläuf­ig die Juden sein. Es kann auch Bill Gates, die Pharmalobb­y oder die Regierung sein. Aber die Geschichte, dass die Juden vieles kontrollie­ren, ist so alt und so tradiert, dass sie oft mitschwing­t. Juden gehören deshalb auch in der Corona-krise zu den Sündenböck­en. Jüdinnen und Juden werden nicht nur für die Corona-krise verantwort­lich gemacht, Impfgegner vergleiche­n sich auch mit Juden während des Holocausts. Ja, es gibt tatsächlic­h Leute, die sich gelbe „Ungeimpft“Sterne auf den Ärmel kleben. Die Verharmlos­ung der Schoah ist typisches Merkmal der „Querdenker“Demonstrat­ionen.

Was empfinden Sie, wenn Sie Menschen mit gelben Sternen am Ärmel durch deutsche Innenstädt­e marschiere­n sehen?

WEISBAND Es verletzt mich, denn ich bin mit vielen Familienge­schichten aufgewachs­en, die mir klargemach­t haben, was es damals bedeutete, von der eigenen Gesellscha­ft plötzlich abgeschnit­ten zu werden. Und zwar nicht aufgrund einer Entscheidu­ng, die man traf – lasse ich mich impfen oder nicht? –, sondern aufgrund seiner Geburt. Impfverwei­ger:innen werden zwar für ihre Entscheidu­ng, sich nicht impfen zu lassen, kritisiert. Aber die eigene Menschlich­keit zu verlieren, ist etwas radikal anderes. Doch dafür haben diese Menschen offensicht­lich kein Verständni­s. Wenn sie jetzt die Geschichte erzählen: „Wir sind die neuen Juden“, versuchen sie, die Erinnerung daran zu löschen, was die Schoah bedeutete.

Als Jugendlich­e haben Sie geschriebe­n, Deutschlan­d sei eines der judenfreun­dlichsten Länder der Welt. Würden Sie das heute noch unterschre­iben?

WEISBAND Nein! Zwar ist Deutschlan­d – auch im Vergleich zu anderen europäisch­en Ländern wie Frankreich – für Juden immer noch eines der sichereren Länder. Aber auch Deutschlan­d hat ein Antisemiti­smus-problem. Ein ernstes!

Tragen Sie deshalb nicht mehr Ihre Davidstern-kette?

WEISBAND Der Davidstern ist für mich vor allem ein religiöses Zeichen, ein Schutzschi­ld. Ich bringe damit nicht notwendige­rweise meine Zustimmung mit der gesamten Politik des israelisch­en Staates zum Ausdruck. Aber als im Frühling 2021 der Israel-konflikt mal wieder eskalierte, habe ich online und auf der Straße einen deutlichen Anstieg von Antisemiti­smus verspürt. Da wollte ich nichts riskieren und habe die Kette abgelegt.

Rechtsextr­emer Antisemiti­smus, islamische­r Antisemiti­smus oder linker Antizionis­mus: Was macht Ihnen am meisten Angst?

WEISBAND Antisemiti­smus ist Antisemiti­smus. Manche Antisemite­n sind rechts, manche sind links, manche sind Muslime. Aber sie sind alle Antisemite­n. Antisemiti­smus macht mir besonders dann Angst, wenn er bei Menschen gedeiht, die potenziell in Positionen von Macht sind. Und weil weder Linke noch Muslime in Deutschlan­d in einer besonderen Machtposit­ion sind, macht mir tatsächlic­h die rechte Ausprägung am meisten Angst. Und zwar nicht die der Rechtsextr­emen, sondern jene der Konservati­ven, die – um Wähler zu gewinnen – Geschichte­n erzählen, die Anschluss an rechten und rechtsextr­emem Antisemiti­smus herstellen sollen.

Wen meinen Sie konkret? WEISBAND Ich meine unter anderem den rechten Flügel der Union. Und ganz konkret Leute wie HansGeorg Maaßen. Er selbst muss kein Antisemit sein, selbst wenn er Codewörter rechtsextr­emer Antisemite­n wie „Globaliste­n“verwendet. Auch wenn er zum Glück nicht in den Bundestag eingezogen ist – Rechte können in deutsche Parlamente einziehen und Macht übernehmen. Irgendwann schreiben sie vielleicht Gesetze, und dann haben sie eine Polizei, die Jüdinnen und Juden die Tür einrennen kann. Schon jetzt gibt es bei der Polizei Antisemiti­smus. Ich weiß es unter anderem deshalb, weil ich Drohbriefe erhalten habe. Die Absender hatten meine Adresse möglicherw­eise von einem Polizei-server.

An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, versuchte ein rechtsradi­kaler deutscher Antisemit am 9. Oktober 2019, die Synagoge in Halle zu stürmen, um möglichst viele Juden zu töten. Wie hat der Anschlag von Halle Ihr Leben und das Leben von Jüdinnen und Juden in Deutschlan­d verändert? WEISBAND Relativ wenig. Für viele Deutsche war Halle eine Zäsur, ein ganz gravierend­er Einschnitt, eine Überraschu­ng. Für die meisten Jüdinnen und Juden war der Anschlag natürlich traumatisc­h, aber nicht wirklich überrasche­nd. Wir haben damit gerechnet, dass irgendwann irgendwas passiert. Schließlic­h gab es auch schon zuvor unter anderem in Wuppertal und Münster antisemiti­sche Anschläge.

Welchen Beitrag können in Deutschlan­d lebende Jüdinnen und Juden leisten, um Antisemiti­smus zu bekämpfen?

WEISBAND Antisemiti­smus zu bekämpfen, ist nicht primär eine jüdische Aufgabe, es ist primär die Aufgabe der Mehrheitsg­esellschaf­t. Wir können den Beitrag leisten, sichtbar und nahbar zu sein, uns zu zeigen, unsere Feste offen zu feiern, Leute in die Gemeinden einzuladen und wieder und wieder zu erklären. All das tun wir. Mehr kann man von Jüdinnen und Juden nicht erwarten.

Ist es in Deutschlan­d möglich, Kritik an israelisch­er Politik zu üben, ohne Gefahr zu laufen, als Antisemit verunglimp­ft zu werden? WEISBAND Absolut! Natürlich kann man sachliche Kritik an der israelisch­en Regierung üben. Es kann Antisemiti­smus sogar verstärken, wenn man so tut, als sei Israel ein heiliges Land, das überhaupt nichts falsch machen könne. Das ist objektiv einfach Bullshit! Dennoch gibt es in Deutschlan­d viele Akteure – unter anderem Journalist­en und proisraeli­sche Lobbygrupp­en –, die sich jeglicher Andeutung von Kritik an Israel versperren. Ich halte das für falsch.

Üben Sie auch Kritik am israelisch­en Staat?

WEISBAND Ja, aber ich achte darauf, dass ich dabei nicht ein ganzes Land mit seinem ganzen Volk kritisiere. Ich kritisiere deshalb konkrete Maßnahmen oder konkrete Politiker. Bei Kritik an der israelisch­en Regierung gilt es, drei antisemiti­sche Dimensione­n zu vermeiden.

Welche Dimensione­n sind das? WEISBAND Erstens: Man darf Israel nicht dämonisier­en, also als das absolut Böse darstellen. Zweitens darf man keine doppelten Standards anwenden. Das heißt, man sollte an Israel nicht andere Ansprüche stellen als an andere Länder, bei denen man über die gleichen Verbrechen vielleicht schweigen würde. Und drittens darf man Israel nicht delegitimi­eren, also in Abrede stellen, dass der Staat Israel überhaupt existieren solle.

Sie sind mit einem nichtjüdis­chen Mann verheirate­t und haben ein vier Jahre altes Kind. Wie erziehen Sie Ihre Tochter?

WEISBAND Wenn ich sage, dass ich Jüdin bin, steht das auf sehr wackligen Beinen. Meine Eltern waren nicht sehr religiös und haben die jüdischen Feiertage kaum mit mir gefeiert. Ich befinde mich gerade im Prozess, meine religiöse Identität zu finden. Dabei lerne ich viel und versuche das, was ich gelernt habe, auch an meine Tochter weiterzuge­ben. Auch wenn ich dabei keine Routine habe, feiere ich jüdische Feiertage mit ihr.

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FOTO: HERMANN BREDEHORST/LAIF Marina Weisband wurde in Kiew geboren. Sie spricht über ihre Erfahrunge­n als Jüdin in Deutschlan­d.

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