Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Montgomery nennt Ende epidemischer Lage „absurd“
Der Weltärztebund-vorsitzende hält die juristischen Argumente für dünn. Auch andere Experten sehen die Entscheidung kritisch.
BERLIN/DÜSSELDORF (jw/dpa/rtr) Der Druck zur Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite auf die Politik wird größer. SPD, Grüne und FDP sehen vor, die Sonderlage zum 25. November auslaufen zu lassen. Dieser Rechtsstatus ermöglicht den Ländern, über die Basismaßnahmen (Maske, Abstand, Hygiene) hinaus weitergehende Beschränkungen zu erlassen. Der Grünen-gesundheitspolitiker Janosch Dahmen sprach nun davon, dass „entschieden im Rahmen der geltenden Rechtslage“gehandelt werden müsse. „Ich bin davon überzeugt, dass dies auch mindestens regional Kontaktbeschränkungen und die vorsorgliche Schließung von Teilen des gesellschaftlichen Lebens in besonders betroffenen Regionen mit einschließt“, sagte Dahmen unserer Redaktion. Alle Bundesländer sollten „ab sofort“weitreichende 2G-regeln einführen. Ab Ende des Monats könnten laut Dahmen mit einem neuen Gesetz zusätzliche Regeln gelten wie verbindliche Home-office-regeln und 3G am Arbeitsplatz.
Der Verfassungsrechtler Thorsten Kingreen, der als Sachverständiger an der externen Evaluation des Infektionsschutzgesetzes beteiligt ist, nannte das Auslaufen der epidemischen Lage weiterhin eine „sehr gute“Lösung. „Man signalisiert klar, dass man keine Rechtsgrundlagen für flächendeckende Schließungen von Bildungseinrichtungen mehr will, kann die dafür erforderliche Rechtsgrundlage aber im äußersten Notfall innerhalb von fünf Minuten durch einen einfachen
Bundestagsbeschluss freischalten“, sagte Kingreen.
Ganz anders sehen das die Experten aus der Medizin. WeltärztebundVorsitzender Frank Ulrich Montgomery nannte es „absurd“, angesichts von bundesweiten Inzidenzen um die 300 von einer Aufhebung der epidemischen Lage zu sprechen. „Die juristischen Argumente sind dünn. Statt dagegen zu argumentieren, schlottern den Politikern die Hosen“, kritisierte Montgomery. Die Marburger-bund-vorsitzende Susanne Johna sagte, es sei falsch, möglicherweise notwendige Instrumente von vornherein auszuschließen. „Eins ist klar: Die Überlastung der Krankenhäuser wird noch für mindestens zwei bis drei Wochen weiter zunehmen“, so Johna.
Der Rechtsstatus der epidemischen Notlage müsse mindestens bis zum Jahreswechsel verlängert werden, forderte Nrw-ministerpräsident Hendrik Wüst in der „Bild“. Das gäbe Bund, Ländern und Kommunen mehr rechtliche Möglichkeiten. „Vor allem wäre es das richtige Signal in dieser schwierigen Zeit.
Impfen, Testen, Vorsicht – darauf kommt es jetzt an.“
Zuvor hatte eine Gruppe von 35 Forschenden unter Federführung der Virologin Melanie Brinkmann und des Internisten Michael Hallek in einem Brandbrief einen nationalen Krisenstab mit Fachleuten und Praktikern aus Virologie, Medizin und Unternehmen gefordert.
Nach dem Willen von Kanzlerin Merkel sollen Bund und Länder bei der Anwendung des sogenannten Hospitalisierungsindex „sehr schnell“einen Schwellenwert festlegen, ab dem zusätzliche Schritte eingeleitet werden müssten. Dieser Schwellenwert müsse „klug gewählt werden, damit die notwendigen Maßnahmen nicht zu spät ergriffen werden“, sagte Merkel in ihrem wöchentlichen Podcast. Ferner forderte Merkel mehr Tempo bei den Auffrischungsimpfungen.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder kündigt schärfere Corona-regeln für den Freistaat an und fordert dies auch bundesweit. „Die Lage droht im gesamten Land zu entgleiten“, sagte der Csu-vorsitzende in München. Ab Dienstag gelte „2G für fast alles“. So sollen auch in Gastronomie und Hotels nur Geimpfte oder Genesene (2G) Zutritt erhalten. Bislang gilt das nur für Veranstaltungen. Für Discos und Klubs müsse zusätzlich ein Schnelltest (2G+) gezeigt werden. In Bayern soll künftig auch überall dort eine Maskenpflicht gelten, wo nur Geimpfte und Genesene Zugang haben.
Die Ampel-parteien SPD, Grüne und FDP wollen diese Woche das Infektionsschutzgesetz im Bundestag novellieren. Damit sollen die Möglichkeiten der Länder für Maßnahmen eingegrenzt werden. So soll es nach bisheriger Planung keine Lockdowns, flächendeckenden Schulschließungen und Ausgangssperren mehr geben können. Als Argument wird angeführt, dass solche harten Maßnahmen keinen Bestand vor Gericht hätten. Die Reform des Infektionsschutzgesetzes soll diese Woche im Bundestag beschlossen werden. Am Donnerstag wollen Bund und Länder in einer Spitzenrunde über die Corona-politik beraten.