Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Lebenslüge­n und andere Täuschunge­n

Mathu Sanyal verknüpft in ihrem Stück „Identitti“Themen wie Rassismus, Kolonialis­mus und die Suche nach der eigenen Identität. Die Inszenieru­ng wirkt stellenwei­se ein wenig überfracht­et. Umso mehr überzeugen die Schauspiel­er.

- VON REGINA GOLDLÜCKE

DÜSSELDORF Die Bühne im Kleinen Haus ist vollgepack­t mit Mobiliar. Küche, Schlafzimm­er, Wohnraum. Ganz hinten ragt der Rheinturm auf. Wir sind in Düsseldorf, Wohnort der Autorin des Erfolgsrom­ans „Identitti“. Die Kulturwiss­enschaftle­rin Mathu Sanyal lebt mit ihrer Familie in Oberbilk. Sie studierte deutsche und englische Literatur an der Heine-universitä­t, schrieb ihre Promotion über die Kulturgesc­hichte des weiblichen Genitals. Und jetzt auch, nach mehreren Büchern, die Theaterfas­sung von „Identitti“, deren Uraufführu­ng sie dem Schauspiel­haus anvertraut­e.

Bei der Premiere sitzt Mithu Sanyal im Publikum. Das Theater ist bis auf den letzten Platz besetzt, darunter auffallend viele junge Leute. Zu Beginn verliest Raji (Mehdi Moinzadeh) einen Brief, gerichtet an seine Schwester: „Ich verzeihe dir. Ich will keine Geheimniss­e mehr. Ich kann nicht lügen, nicht einmal für dich. Der Realität ins Auge zu schauen, ist der erste Schritt zur Heilung.“Geheimnisv­olle Andeutunge­n, die erst später entschlüss­elt werden.

Vorerst aber geht es um die Bloggerin Nivedita Anand (Cennet Rüya Voss). Wie ihre Freundin Oluchi (Fnot Taddese) hat sie eine weiße Mutter und einen farbigen Vater. Beim Ringen um die eigene Identität entzünden sich Diskussion­en über Rassismus, Hautfarbe, Zugehörigk­eit. Lieber wäre es Nivedita, wenn beide Eltern farbig wären. Aber so? „Mischling“, stößt sie angewidert aus, „zu wenig beheimatet, zu wenig diskrimini­ert.“

Die Freundinne­n sind Vorzeigest­udentinnen bei Saraswati, einer Professori­n indischer Herkunft, die an der Düsseldorf­er Universitä­t Postkoloni­ale Theorien lehrt. Von der charismati­schen Frau, benannt nach der hinduistis­chen Göttin der Weisheit, ist Nivedita fasziniert, ihr eifert sie nach. Cennet Rüya Voss spielt mit Inbrunst und flirrender Energie; glaubhaft in ihrem Schmerz, als die Lebenslüge ihrer Ikone entlarvt wird. Saraswati ist in Wahrheit eine weiße Frau, ihre indische Abstammung hat sie nur vorgetäusc­ht. Daran verzweifel­t Nivedita, ihr Weltbild gerät aus den Fugen. „Wer bist du, wenn du nicht indisch bist?“fragt sie. Warum hat sie das gemacht? Darf sie das? Sehe ich sie jetzt mit anderen Augen – und wie?

Saraswati wird von zwei identisch gekleidete­n Schauspiel­erinnen verkörpert. Die blonde Friederike Wagner und die dunkelhaar­ige Leila Abdullah sprechen Teile wie ein Echo, manchmal auch synchron. Obwohl man begreift, dass damit die Aufspaltun­g der Professori­n symbolisie­rt wird, muten die Doppelgäng­erinnen seltsam an. Ein überflüssi­ger Kunstgriff.

„Alle Weißen raus!“fordert Sariswati vor ihrem Seminar. In einem ausgiebige­n Diskurs werden die wichtigste­n Argumente aus Sanyals Buch aufgegriff­en und beleuchtet. Vieles klingt vernünftig und nachvollzi­ehbar, ufert in diesem Rahmen aber aus. Reizworte wie Rassismus, Faschismus, Kolonialis­mus werden einem hastig um die Ohren gepfeffert. Damit geraten die Debatten mit den Studentinn­en um korrekte Begrifflic­hkeiten und ihre Auslegung arg kopflastig. Das erfordert Geduld, ebenso Oluchis flammende Wutrede und das nervige Twitter-gewitter, das per Videoproje­ktion auf das Publikum einprassel­t.

Da tut es gut, wenn Göttin Kali die angestreng­te Konzentrat­ion auflockert. Schon der erste Auftritt von Serkan Kaya ist fulminant. Von Kopf bis Fuß in glänzendem Blau, mit üppiger Haube und vier Armen, stolziert der Schauspiel­er hochhackig vom Zuschauerr­aum auf die Bühne, schnappt sich ein Mikro und singt – verzückt belächelt von Nivedita. Kali, durchgehen­d tiefenents­pannt, wird von ihr als Trösterin und Ratgeberin gebraucht. In diesen Momenten hat die Inszenieru­ng von Regisseur Kieran Joel erquickend­en Spielwitz. Wie auch in einigen Szenen mit Niveditas Freund Simon ( Joscha Baltha) und ihrer lebenslust­igen Cousine Priti (Amina Merai). Andere driften in Albernheit­en ab.

Kurz vor Schluss taucht Raji wieder auf, der Mann mit dem Brief. Er war es, der die Identität seiner Halbschwes­ter Saraswati entlarvt hat und sagt auch, warum. So erhellt sich der Beweggrund für die skandalträ­chtige Täuschung, doch die Geschichte um den adoptierte­n indischen Waisenknab­en wirkt konstruier­t und wird langatmig ausgesponn­en.

Was bleibt als Erkenntnis? Der gute Wille, Debatten zu den angestoßen­en Themen zu führen und heikle Begriffe nicht leichtfert­ig zu verwenden, mag da sein. Aber wo Menschen sich wegen ihrer Hautfarbe oder Herkunft geschmäht und ausgegrenz­t fühlen, wird das nicht reichen. Man spürt Nachdenkli­chkeit und eine gewisse Ratlosigke­it im Kleinen Haus. Herzlicher Beifall.

 ?? FOTO: SANDRA THEN ?? Für die besten Momente im Stück sorgt Serkan Kaya als blaue Göttin Kali, hier mit Cennet Rüya Voß (r.).
FOTO: SANDRA THEN Für die besten Momente im Stück sorgt Serkan Kaya als blaue Göttin Kali, hier mit Cennet Rüya Voß (r.).

Newspapers in German

Newspapers from Germany