Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Der Angreifer als Verteidige­r

- VON ULRICH KRÖKEL

Politik beginnt mit dem Blick auf die Realität. Diese Einsicht scheint nun auch bei Wladimir Putin angekommen zu sein. Der Auftritt des russischen Präsidente­n am „Tag des Sieges“in Moskau bot nichts von alledem, was Beobachter im Vorfeld als Schreckens­szenarien an die Wand gemalt hatten. Nicht die Ausrufung des Kriegszust­ands, keine Generalmob­ilmachung, keine neuen Atomdrohun­gen und auch keine Annexion weiterer ukrainisch­er Territorie­n. Stattdesse­n würdigte Putin erstmals öffentlich die eigenen Opfer – und erkannte damit die finstere Wirklichke­it an. All das war so wenig von Siegeszuve­rsicht geprägt, dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, der Präsident bereite sein Volk auf eine drohende Niederlage vor. Das allerdings wäre ein fataler Fehlschlus­s. Was Putin in seiner Rede versucht hat, war eine Frontbegra­digung im Innern.

Die Erzählung von der chirurgisc­h sauberen „militärisc­hen Spezialope­ration“war angesichts der hohen Verluste schlicht nicht mehr durchzuhal­ten. Also hat Putin seinem Volk durch die Blume mitgeteilt, dass es nicht gut läuft. Modern gesprochen: Der Kremlchef hat Erwartungs­management betrieben. Das aber darf nicht darüber hinwegtäus­chen, dass es sich auch weiterhin um die Ziele eines imperialen Aggressors handelt. Die eroberten Regionen im Osten und Süden der Ukraine, inklusive der zerstörten Hafenstadt Mariupol und einer Landbrücke zur annektiert­en Krim, wird die russische Armee nicht räumen. Die Ukraine müsste sie zurückerob­ern – oder sie in Verhandlun­gen abtreten.

Unausgespr­ochen hat Putin ein solches „Angebot“in den Raum gestellt. Angesichts des Kriegsverl­aufs wird Kiew darauf kaum eingehen. Präsident Wolodymyr Selenskyj könnte es seinen Landsleute­n schlicht nicht erklären, dass er nach all den Opfern nun Territorie­n abtritt. Der Krieg wird deshalb weitergehe­n: mit dem Angreifer in der Rolle des Verteidige­rs.

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