Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Der Angreifer als Verteidiger
Politik beginnt mit dem Blick auf die Realität. Diese Einsicht scheint nun auch bei Wladimir Putin angekommen zu sein. Der Auftritt des russischen Präsidenten am „Tag des Sieges“in Moskau bot nichts von alledem, was Beobachter im Vorfeld als Schreckensszenarien an die Wand gemalt hatten. Nicht die Ausrufung des Kriegszustands, keine Generalmobilmachung, keine neuen Atomdrohungen und auch keine Annexion weiterer ukrainischer Territorien. Stattdessen würdigte Putin erstmals öffentlich die eigenen Opfer – und erkannte damit die finstere Wirklichkeit an. All das war so wenig von Siegeszuversicht geprägt, dass man fast den Eindruck gewinnen konnte, der Präsident bereite sein Volk auf eine drohende Niederlage vor. Das allerdings wäre ein fataler Fehlschluss. Was Putin in seiner Rede versucht hat, war eine Frontbegradigung im Innern.
Die Erzählung von der chirurgisch sauberen „militärischen Spezialoperation“war angesichts der hohen Verluste schlicht nicht mehr durchzuhalten. Also hat Putin seinem Volk durch die Blume mitgeteilt, dass es nicht gut läuft. Modern gesprochen: Der Kremlchef hat Erwartungsmanagement betrieben. Das aber darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich auch weiterhin um die Ziele eines imperialen Aggressors handelt. Die eroberten Regionen im Osten und Süden der Ukraine, inklusive der zerstörten Hafenstadt Mariupol und einer Landbrücke zur annektierten Krim, wird die russische Armee nicht räumen. Die Ukraine müsste sie zurückerobern – oder sie in Verhandlungen abtreten.
Unausgesprochen hat Putin ein solches „Angebot“in den Raum gestellt. Angesichts des Kriegsverlaufs wird Kiew darauf kaum eingehen. Präsident Wolodymyr Selenskyj könnte es seinen Landsleuten schlicht nicht erklären, dass er nach all den Opfern nun Territorien abtritt. Der Krieg wird deshalb weitergehen: mit dem Angreifer in der Rolle des Verteidigers.