Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
Eu-euphorie mündet in Ernüchterung
Das Engagement vieler Bürger bei einer Konferenz erhält einen Dämpfer: Die Gegner machen mobil.
Tausende Wörter voller Euphorie, und dann das: Europas Jugend steht im Plenarsaal des Eu-parlaments in Straßburg, umringt den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, flehend gefaltete Hände, verzweifelte Gesichter. Am Europatag sollte die EU einen Schub bekommen, sollten die in 13 Monaten unter europaweiter Bürgerbeteiligung gewonnenen Vorschläge für einen Neustart der Union von der Phase der Findung in die Phase der Verwirklichung übergehen. Aber dann kommt die totale Ernüchterung.
Eben haben die drei Spitzenvertreter der Europäischen Union noch ihren ernsten Willen bekundet, die 49 zentralen Vorschläge mit 300 konkreten Maßnahmen anzupacken und dabei auch nicht um den heißen Brei herumzureden, sprich: Änderungen der europäischen Verträge vorzubereiten. Damit soll die EU in ihren Entscheidungen weniger träge, das europäische Bewusstsein in Wahlen weniger national geprägt und das Parlament als Bürgerwille mit mehr Rechten ausgestattet werden.
Parlamentspräsidentin Roberta Metsola kündigt bereits an, dass das Parlament schon in wenigen Wochen die Einberufung des dafür nötigen Konvents auf den Weg bringen werde. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigt ebenfalls ihre Bereitschaft, „wenn nötig“auch die Verträge zu ändern. Und Emmanuel Macron kündigt nicht nur an, das schon auf die Tagesordnung des Eu-gipfels im Juni zu setzen. Er „befürworte eine institutionelle Reform“, sagt er.
Doch die wohlinszenierte EuropaBegeisterung der Bürger und Politiker, die an diesem Europatag in Straßburg die Ergebnisse der EU-ZUkunftskonferenz den Spitzen der EU formal übergeben, bekommt einen heftigen Dämpfer. Schweden veröffentlicht gleichzeitig ein „NichtPapier“, wie es bei der EU immer dann aufgeschrieben wird, wenn etwas noch nicht offiziell sein soll, man aber schon mal seine Wünsche signalisieren möchte. „Wir erinnern daran, dass eine Vertragsänderung nie ein Ziel der Konferenz war“, heißt es im Namen von Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowenien und Schweden. Sie warnen vor „unüberlegten und vorschnellen“Versuchen, Vertragsänderungen einzuleiten. Mit den Verträgen habe man auch die zurückliegenden Krisen bewältigt.
„Die Zukunft liegt in unseren Händen“, betonen die jungen Frauen und Männer aus allen EU-LÄNdern derweil im Saal. Es gibt starke Emotionen für die europäische Idee, für die großartigen Vorteile des friedlichen Zusammenwachsens gerade in Zeiten des russischen Angriffskrieges.
Die Politiker lassen sich davon anstecken. „Mut und Kühnheit“kündigt Dubravka Suica, die Vizepräsidentin der Eu-kommission, an, bevor die Highlights der Vorschläge als Videos präsentiert werden. Klimawandel anpacken, Pandemien mehr europäisch bekämpfen, die Werte der EU gegen Angriffskriege verteidigen, eine faire Teilung der Migrationsströme. Von der Leyen verspricht, die Vorschläge gleich in die Hand zu nehmen, für die keine Vertragsänderungen nötig sind. Mehr für die Bewahrung der Natur unternehmen, Verpackungsabfälle vermindern, aus Zwangsarbeit entstandene Erzeugnisse verbieten. Bis zu ihrer Rede zur Lage der Union im September will sie weitere Vorhaben geschultert haben.
Auch Macron versucht, die Dynamik aufzunehmen und zu verstärken. Dringend müsse sich die EU von russischen Rohstoffen unabhängig machen und dafür auch beim Ausbau der Erneuerbaren ambitionierter werden. Freilich kommt auch von ihm bereits ein deutlicher Dämpfer. Natürlich wünsche er sich, dass die Ukraine „morgen“schon zum Eu-beitrittskandidaten ernannt sei, „Mitglied der Herzen“sei das Land schon. Doch bis zum eigentlichen Beitritt würden viele Jahre, wahrscheinlich Jahrzehnte vergehen.