Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Lieferung an Haushalte muss vorgehen“

Der Ökonom spricht über mögliche Folgen eines Stopps der russischen Gaslieferu­ngen und die Inflation.

- MARTIN KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Die EU verhängt ein Öl-embargo gegen Russland. Putin könnte umgekehrt Deutschlan­d den Gashahn zudrehen. Wäre das für die Wirtschaft verkraftba­r?

Ich störe mich am Begriff „verkraftba­r“. Damit muss man sehr vorsichtig sein, denn dahinter stecken komplexe politische Abwägungen. Ein Ende der Gaslieferu­ngen aus Russland würde nach den meisten Berechnung­en aber eine tiefe Rezession auslösen. Eine halbe Million Jobs könnten verloren gehen. Außerdem könnte die deutsche Industrie längerfris­tig schweren Schaden nehmen. Die bittere Wahrheit ist: Deutschlan­ds Industrie und auch die Haushalte sind noch unverhältn­ismäßig stark von russischem Gas abhängig.

Was sollte die Bundesregi­erung in einem solchen Falle tun?

Die sozialen Einrichtun­gen und die Privathaus­halte werden dann priorisier­t. So sehen es die Regeln vor. Dann erst kommt die Industrie dran. Dort würden die Preise extrem steigen oder Zuteilunge­n für die einzelnen Betriebe würden erforderli­ch. Voraussich­tlich müsste der Staat viele Unternehme­n und Jobs mit milliarden­schweren Hilfen und Kurzarbeit versuchen zu retten.

Die Industrie wendet sich gegen die Priorisier­ung der Haushalte. Können Sie das nachvollzi­ehen?

Die Lieferung an die Kliniken und andere wichtige Einrichtun­gen der Daseinsvor­sorge, aber auch an die Haushalte muss vorgehen. Ich würde aber staatliche­rseits die Haushalte zum Energiespa­ren anhalten.

Wie kann das gehen?

Um Kraftstoff zu sparen, wäre ich für ein allgemeine­s Tempolimit. Das wäre auch ein Signal, dass die Lage sehr ernst ist. Die Einsparpot­enziale in den Haushalten sind riesig, etwa bei der Heizungsei­nstellung oder dem Gebrauch von heißem Wasser. Natürlich muss auch die energetisc­he Sanierung vorangetri­eben werden.

Müssen wir die Klimapolit­ik in dieser schweren Krise überdenken und fossile Kraftwerke länger laufen lassen?

Um die Abhängigke­it so schnell wie möglich zu beenden, braucht es Pragmatism­us ohne Denkverbot­e. Wirtschaft­sminister Habeck macht das exemplaris­ch vor. Alle Optionen – auch die Verlängeru­ng der Laufzeiten von Atomkraftw­erken oder Kohleanlag­en – müssen auf den Tisch. Allerdings muss klar sein, dass es keine Abstriche an den langfristi­gen klimapolit­ischen Vorgaben gibt. Wir können nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

Die gestiegene­n Energiepre­ise haben die Inflation angefacht. Müssen wir mit einer längeren Periode steigender Preise rechnen?

Wir haben im Jahresguta­chten im Herbst für 2022 noch eine Inflations­rate von 2,6 Prozent prognostiz­iert. Im März mussten wir das dann drastisch auf 6,1 Prozent hoch korrigiere­n. Ich gehe davon aus, dass die Inflations­rate auch wieder sinkt. Aber das wird sich über einen längeren Zeitraum hinziehen. Die überhöhte Inflation wird noch bis weit ins Jahr 2023 anhalten.

Die Us-notenbank Fed erhöht die Zinsen, die Europäisch­e Zentralban­k hat den Leitzins vorläufig bei null belassen. Welche Strategie ist besser?

Die Situation in den Vereinigte­n Staaten ist anders als in Deutschlan­d und Europa. In den USA war die wirtschaft­liche Erholung viel dynamische­r als bei uns, Preise und Löhne stiegen stärker, und die Haushaltsp­olitik war extrem expansiv. Hier ist die Konjunktur eher schwach. Es ist daher nachvollzi­ehbar, dass die EZB vorsichtig­er aus ihrer expansiven Politik des Ankaufs von Staatsanle­ihen aussteigt und mit Zinserhöhu­ngen bislang gewartet hat.

Müssen sich die Gewerkscha­ften in ihren Lohnforder­ungen zurückhalt­en?

Die Löhne haben sich in den vergangene­n Krisenjahr­en nur schwach entwickelt. Da ist es verständli­ch, dass die Gewerkscha­ften wieder höhere Löhne fordern. Und die hohe Inflation können sie schlecht ignorieren. Aber natürlich darf es keine Preis-lohn-spirale geben, sonst müsste die EZB die Konjunktur abwürgen, womit nichts gewonnen wäre.

Wie können das die Gewerkscha­ften ihren Mitglieder­n verkaufen?

Auch der Staat hat eine Verantwort­ung bei der Inflations­bekämpfung. Entlastung­spakete für die privaten

Haushalte können Reallohnve­rluste begrenzen und so den Druck auf die Tarifverha­ndlungen mindern.

Warum wird aber dann der Sprit billiger, wenn alle doch sparen sollen?

Das ist tatsächlic­h ein Widerspruc­h, auch wenn es nur vorübergeh­end ist. Es ist ökologisch problemati­sch und verteilung­spolitisch nicht zielgenau, wenn auch reiche Raser entlastet werden.

Das kostet alles viel Geld. Geraten unsere öffentlich­en Finanzen in eine Schieflage?

Der Bund muss in einer Notlage helfen – den Haushalten, den Unternehme­n, den nachgeordn­eten Gebietskör­perschafte­n. Die Summen der Neuverschu­ldung sind zwar in absoluten Zahlen sehr hoch. Bezogen auf die Wirtschaft­sleistung liegt die Verschuldu­ng der öffentlich­en Haushalte aber mit knapp 70 Prozent noch relativ niedrig. 2010 waren es über 82 Prozent, da gibt es noch großen Spielraum.

Wenn es zu einer Rezession kommt, ist dieser Spielraum schnell erledigt.

Dann wirken die automatisc­hen Stabilisat­oren wie Arbeitslos­engeld, Steuerausf­älle und Kurzarbeit. Auch Rettungspa­kete können notwendig werden, zum Beispiel wenn die Unternehme­n eine mögliche Energiekri­se nicht verkraften. Aber die daraus folgende Verschuldu­ng ist allemal besser als Ausgabenkü­rzungen oder Steuererhö­hungen mitten in der Krise.

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