Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Lieferung an Haushalte muss vorgehen“
Der Ökonom spricht über mögliche Folgen eines Stopps der russischen Gaslieferungen und die Inflation.
Die EU verhängt ein Öl-embargo gegen Russland. Putin könnte umgekehrt Deutschland den Gashahn zudrehen. Wäre das für die Wirtschaft verkraftbar?
Ich störe mich am Begriff „verkraftbar“. Damit muss man sehr vorsichtig sein, denn dahinter stecken komplexe politische Abwägungen. Ein Ende der Gaslieferungen aus Russland würde nach den meisten Berechnungen aber eine tiefe Rezession auslösen. Eine halbe Million Jobs könnten verloren gehen. Außerdem könnte die deutsche Industrie längerfristig schweren Schaden nehmen. Die bittere Wahrheit ist: Deutschlands Industrie und auch die Haushalte sind noch unverhältnismäßig stark von russischem Gas abhängig.
Was sollte die Bundesregierung in einem solchen Falle tun?
Die sozialen Einrichtungen und die Privathaushalte werden dann priorisiert. So sehen es die Regeln vor. Dann erst kommt die Industrie dran. Dort würden die Preise extrem steigen oder Zuteilungen für die einzelnen Betriebe würden erforderlich. Voraussichtlich müsste der Staat viele Unternehmen und Jobs mit milliardenschweren Hilfen und Kurzarbeit versuchen zu retten.
Die Industrie wendet sich gegen die Priorisierung der Haushalte. Können Sie das nachvollziehen?
Die Lieferung an die Kliniken und andere wichtige Einrichtungen der Daseinsvorsorge, aber auch an die Haushalte muss vorgehen. Ich würde aber staatlicherseits die Haushalte zum Energiesparen anhalten.
Wie kann das gehen?
Um Kraftstoff zu sparen, wäre ich für ein allgemeines Tempolimit. Das wäre auch ein Signal, dass die Lage sehr ernst ist. Die Einsparpotenziale in den Haushalten sind riesig, etwa bei der Heizungseinstellung oder dem Gebrauch von heißem Wasser. Natürlich muss auch die energetische Sanierung vorangetrieben werden.
Müssen wir die Klimapolitik in dieser schweren Krise überdenken und fossile Kraftwerke länger laufen lassen?
Um die Abhängigkeit so schnell wie möglich zu beenden, braucht es Pragmatismus ohne Denkverbote. Wirtschaftsminister Habeck macht das exemplarisch vor. Alle Optionen – auch die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken oder Kohleanlagen – müssen auf den Tisch. Allerdings muss klar sein, dass es keine Abstriche an den langfristigen klimapolitischen Vorgaben gibt. Wir können nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.
Die gestiegenen Energiepreise haben die Inflation angefacht. Müssen wir mit einer längeren Periode steigender Preise rechnen?
Wir haben im Jahresgutachten im Herbst für 2022 noch eine Inflationsrate von 2,6 Prozent prognostiziert. Im März mussten wir das dann drastisch auf 6,1 Prozent hoch korrigieren. Ich gehe davon aus, dass die Inflationsrate auch wieder sinkt. Aber das wird sich über einen längeren Zeitraum hinziehen. Die überhöhte Inflation wird noch bis weit ins Jahr 2023 anhalten.
Die Us-notenbank Fed erhöht die Zinsen, die Europäische Zentralbank hat den Leitzins vorläufig bei null belassen. Welche Strategie ist besser?
Die Situation in den Vereinigten Staaten ist anders als in Deutschland und Europa. In den USA war die wirtschaftliche Erholung viel dynamischer als bei uns, Preise und Löhne stiegen stärker, und die Haushaltspolitik war extrem expansiv. Hier ist die Konjunktur eher schwach. Es ist daher nachvollziehbar, dass die EZB vorsichtiger aus ihrer expansiven Politik des Ankaufs von Staatsanleihen aussteigt und mit Zinserhöhungen bislang gewartet hat.
Müssen sich die Gewerkschaften in ihren Lohnforderungen zurückhalten?
Die Löhne haben sich in den vergangenen Krisenjahren nur schwach entwickelt. Da ist es verständlich, dass die Gewerkschaften wieder höhere Löhne fordern. Und die hohe Inflation können sie schlecht ignorieren. Aber natürlich darf es keine Preis-lohn-spirale geben, sonst müsste die EZB die Konjunktur abwürgen, womit nichts gewonnen wäre.
Wie können das die Gewerkschaften ihren Mitgliedern verkaufen?
Auch der Staat hat eine Verantwortung bei der Inflationsbekämpfung. Entlastungspakete für die privaten
Haushalte können Reallohnverluste begrenzen und so den Druck auf die Tarifverhandlungen mindern.
Warum wird aber dann der Sprit billiger, wenn alle doch sparen sollen?
Das ist tatsächlich ein Widerspruch, auch wenn es nur vorübergehend ist. Es ist ökologisch problematisch und verteilungspolitisch nicht zielgenau, wenn auch reiche Raser entlastet werden.
Das kostet alles viel Geld. Geraten unsere öffentlichen Finanzen in eine Schieflage?
Der Bund muss in einer Notlage helfen – den Haushalten, den Unternehmen, den nachgeordneten Gebietskörperschaften. Die Summen der Neuverschuldung sind zwar in absoluten Zahlen sehr hoch. Bezogen auf die Wirtschaftsleistung liegt die Verschuldung der öffentlichen Haushalte aber mit knapp 70 Prozent noch relativ niedrig. 2010 waren es über 82 Prozent, da gibt es noch großen Spielraum.
Wenn es zu einer Rezession kommt, ist dieser Spielraum schnell erledigt.
Dann wirken die automatischen Stabilisatoren wie Arbeitslosengeld, Steuerausfälle und Kurzarbeit. Auch Rettungspakete können notwendig werden, zum Beispiel wenn die Unternehmen eine mögliche Energiekrise nicht verkraften. Aber die daraus folgende Verschuldung ist allemal besser als Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen mitten in der Krise.