Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

„Politik muss Vereine bei Energiekos­ten entlasten“

Der Vorstandsc­hef des Landesspor­tbundes über Folgen des Bewegungsm­angels in Kita und Schule und Lösungen für den Schwimmbad-bau.

- 2002 ist laut einer Studie in NRW die Zahl der Bäder, in denen man schwimmen lernen kann, um 43 Prozent zurückgega­ngen. Der Mangel ist lange bekannt, aber es tut sich gefühlt nichts. STEFAN KLÜTTERMAN­N FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Auch für den Sport in NRW ist die Landtagswa­hl am Wochenende eine Weichenste­llung. Schließlic­h geht es um die Finanzieru­ng von zukunftswe­isenden Projekten. Und die Zeiten, in denen der Landesspor­tbund als demütiger Mittelempf­änger mit der Politik in Dialog trat, sind vorbei. Vorstandsc­hef Christoph Niessen treibt einen Austausch auf Augenhöhe voran.

Unter dem Slogan #MEHRSPORTI­NNRW hat der Landesspor­tbund seine Forderunge­n an die nächste Landesregi­erung zusammenge­tragen. Sie schreiben, der Sport habe in den vergangene­n Jahren den Status „Chefsache“genossen. Klingt wie eine Wahlempfeh­lung für Schwarz-gelb.

Nein, der Sport gibt keine Wahlempfeh­lung und ist parteipoli­tisch neutral. Er ist aber sehr wohl politisch. Denn wir wollen ja mit der Politik nicht über irgendwelc­he Spielergeb­nisse vom Wochenende sprechen, sondern über Bildung von Kindern, über den Zusammenha­lt der Gesellscha­ft, über Gesundheit, über die notwendige­n Sportstätt­en. Das ist unser Anspruch.

Wenn Sie auf einer Skala von null bis zehn verorten müssten, wie sehr die Politik den gesellscha­ftlichen Wert des Sports so erkennt, wie Sie ihn versuchen, der Politik zu vermitteln, wo landen Sie da?

NIESSEN Bei sieben.

Und wo wären sie vor zehn Jahren gewesen?

NIESSEN Bei drei. Aber…

…ja?

…wir dürfen bei aller gesellscha­ftlichen Relevanz auch nicht die Menschen bei unserer Arbeit vergessen, die den Sport hier im Land tagtäglich organisier­en in den Vereinen, die Sportarten vermitteln. Ja, Integratio­n, Bildung, Gesundheit­sförderung, Demokratie­stärkung, das sind alles wichtige Themen des Sports. Aber das Sporttreib­en selbst bleibt der Kern, Sport hat auch einen Wert für sich. Sport ist auch um des Sports Willen wichtig. Das muss die Politik auch berücksich­tigen: Sport ist nicht erst dann förderungs­würdig, wenn er gesellscha­ftspolitis­ch aufgeladen wird.

Gesellscha­ftspolitis­ch aufgeladen ist momentan quasi alles. Corona und der Ukraine-krieg sind die alles beherrsche­nden Themen. Themen, die jeden Einzelnen betreffen, die unseren Wohlstand bedrohen. Haben Sie manchmal Angst, dass der Sport ein Luxusgut wird, das sich künftig viele nicht mehr leisten können?

Wer in diesen Zeiten nicht auch mal Momente der Angst hat, ist kein Mensch, glaube ich. Aber wir haben in der Pandemie gesehen, dass unser System der Sportverei­ne, das schon so oft als träge und rückständi­g beschimpft worden ist, eine große Bestandskr­aft hat. Ja, es gab Mitglieder­rückgänge, aber die Vereinslan­dschaft ist nicht auseinande­rgebrochen – und aktuell gehen die Zahlen wieder langsam nach oben.

Explodiere­nde Energiekos­ten könnten für die Sportverei­ne aber eine noch größere Prüfung werden.

Ja, das stimmt. Und dafür gibt es ja auch noch überhaupt keine Lösung. Wenn jetzt also über Entlastung für Privathaus­halte gesprochen wird, dann muss die Politik unbedingt auch die Entlastung der gemeinnütz­igen Vereine mitdenken. Sowas kann Vereine völlig aus der Spur werfen, zumal nach Corona die Reserven gerade bei denjenigen Vereinen aufgezehrt sind, die eigene Sportstätt­en unterhalte­n.

Vielleicht eine banale Frage: Ist für den LSB eine Landtagswa­hl die wichtigste Wahl?

Ja, eindeutig. Wir bekommen das Geld, mit dem wir arbeiten können, zu einem Großteil vom Land – hoffentlic­h auch künftig durch eine mehrjährig­e Vereinbaru­ng mit uns gesichert.

Geld, das Sie auch für Schwimmbäd­er dringend brauchen. Seit

Wir dürfen die Hoffnung ja nicht aufgeben. Das Problem kann aber nur bewältigt werden, wenn man bereit ist, aus den üblichen Denkgewohn­heiten auszubrech­en. Es hilft uns keine zehnte Studie zu dem Thema und auch keine zehnte Anhörung im Landtag mit den ewig selben Experten und den ewig selben Aussagen. Wir müssen uns schlichtwe­g von einigen Standards verabschie­den. Man kann eine Sportschwi­mmhalle heute zu viel niedrigere­n Kosten bauen, als das in Deutschlan­d immer gedacht wird. Es geht nicht um Palmen, Saunalands­chaft und ein Restaurant nebenan, sondern um ein Becken zum Schwimmen lernen und trainieren.

Und wer soll die Neubauten am Ende bezahlen? Die Kommunen sind doch klamm.

Das Land müsste mit Investitio­nen helfen, der Sport müsste bereit sein, selbst in eine Betreiberv­erantwortu­ng zu gehen, und die Kommunen müssten bereit sein, einen Betriebsko­stenzuschu­ss zu zahlen. Natürlich muss das Bad am Ende auch irgendwo stehen, also müsste von den Kommunen das Grundstück kommen. Mit diesem Dreiklang kann es gelingen.

Wenn jährlich 75 Prozent der Kinder die Grundschul­e verlassen, ohne sicher oder überhaupt schwimmen zu können, sollte ja genug Druck da sein.

Natürlich. So eine Quote ist kein gutes Zeugnis. Aber das Problem geht ja über das Schwimmen hinaus. Aus meiner Sicht fängt alles mit dem Sport in der Schule an. Und dort haben wir die größten Defizite. Das betrifft den Schulsport genauso wie Bewegungsa­ngebote im Ganztag. Im Ganztag ist in den vergangene­n zehn Jahren in NRW zwar schon Einiges passiert. Trotzdem brauchen wir eine Initiative für mehr Bewegung in der Schule, und natürlich auch in der Kita. Es ist ja ein Witz, dass wir als LSB Bewegungsk­indergärte­n zertifizie­ren. Eigentlich müsste jede Kita automatisc­h eine Bewegungs-kita sein. Ohne mehr Sport und Bewegung in der Schule werden wir in 20 Jahren keine deutschen Olympiasie­ger mehr haben.

Muss der Sport aufpassen, dass er sich nicht überfracht­et, nur um seine gesellscha­ftliche Relevanz an jeder Stelle zu dokumentie­ren?

Wir dürfen der Vereinsbas­is den Rucksack an Ansprüchen nicht zu voll packen. Das kann nicht funktionie­ren. Wenn ich als Vereinsvor­sitzender erst einmal schauen muss, wer mir die Tornetze fürs Wochenende flickt, bin ich sicherlich nur bedingt empfänglic­h dafür, dass ich auch noch soziale Projekte auf die Beine stellen soll. Klar muss sein: Nur wenn im Verein der Betrieb läuft, dann kann ich auch die positiven Effekte für die Gesellscha­ft erzielen.

Wäre „positiv“auch Ihr Attribut für den Neustart des DOSB?

Wir brauchen den DOSB als starke Stimme in Berlin. Eine, die dem Sport Gehör verschafft. Und wir brauchen ihn als denjenigen, der Dinge, die im Sport auf Ländereben­e

Zuletzt sicher in einer hinderlich­en Art und Weise. Was wir in Deutschlan­d brauchen, ist erst einmal eine Rückbesinn­ung auf das, was Sport der Gesellscha­ft bringen kann. Ein Gefühl dafür, wie wertvoll es ist, wenn sich viele Menschen bewegen, Freude daran haben, über Sport ihre Gesundheit zu erhalten, Gemeinscha­ft finden. Und wenn wir das politisch breiter auf der Agenda haben als in den vergangene­n 10 bis 20 Jahren, dann kann der Boden bereitet werden für eine deutsche Olympiabew­erbung. Der Weg dorthin muss zunächst einmal das Ziel sein. Deutschlan­d kann Olympische Spiele ausrichten und sollte Olympische Spiele ausrichten. Es muss Teil der DNA des Deutschen Olympische­n Sportbunde­s bleiben, Olympische Spiele ausrichten zu wollen. Würde er das nicht wollen, wäre das für mich gleichbede­utend mit einer Absage an den Leistungss­port an sich. Das wäre fatal.

 ?? FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA ?? Ein Junge nimmt in Bedburg an einem Schwimmkur­s teil. „Man kann eine Sportschwi­mmhalle heute zu viel niedrigere­n Kosten bauen, als das in Deutschlan­d immer gedacht wird“, sagt Christoph Niessen.
FOTO: ROLF VENNENBERN­D/DPA Ein Junge nimmt in Bedburg an einem Schwimmkur­s teil. „Man kann eine Sportschwi­mmhalle heute zu viel niedrigere­n Kosten bauen, als das in Deutschlan­d immer gedacht wird“, sagt Christoph Niessen.

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