Rheinische Post - Wesel/Dinslaken
„Politik muss Vereine bei Energiekosten entlasten“
Der Vorstandschef des Landessportbundes über Folgen des Bewegungsmangels in Kita und Schule und Lösungen für den Schwimmbad-bau.
Auch für den Sport in NRW ist die Landtagswahl am Wochenende eine Weichenstellung. Schließlich geht es um die Finanzierung von zukunftsweisenden Projekten. Und die Zeiten, in denen der Landessportbund als demütiger Mittelempfänger mit der Politik in Dialog trat, sind vorbei. Vorstandschef Christoph Niessen treibt einen Austausch auf Augenhöhe voran.
Unter dem Slogan #MEHRSPORTINNRW hat der Landessportbund seine Forderungen an die nächste Landesregierung zusammengetragen. Sie schreiben, der Sport habe in den vergangenen Jahren den Status „Chefsache“genossen. Klingt wie eine Wahlempfehlung für Schwarz-gelb.
Nein, der Sport gibt keine Wahlempfehlung und ist parteipolitisch neutral. Er ist aber sehr wohl politisch. Denn wir wollen ja mit der Politik nicht über irgendwelche Spielergebnisse vom Wochenende sprechen, sondern über Bildung von Kindern, über den Zusammenhalt der Gesellschaft, über Gesundheit, über die notwendigen Sportstätten. Das ist unser Anspruch.
Wenn Sie auf einer Skala von null bis zehn verorten müssten, wie sehr die Politik den gesellschaftlichen Wert des Sports so erkennt, wie Sie ihn versuchen, der Politik zu vermitteln, wo landen Sie da?
NIESSEN Bei sieben.
Und wo wären sie vor zehn Jahren gewesen?
NIESSEN Bei drei. Aber…
…ja?
…wir dürfen bei aller gesellschaftlichen Relevanz auch nicht die Menschen bei unserer Arbeit vergessen, die den Sport hier im Land tagtäglich organisieren in den Vereinen, die Sportarten vermitteln. Ja, Integration, Bildung, Gesundheitsförderung, Demokratiestärkung, das sind alles wichtige Themen des Sports. Aber das Sporttreiben selbst bleibt der Kern, Sport hat auch einen Wert für sich. Sport ist auch um des Sports Willen wichtig. Das muss die Politik auch berücksichtigen: Sport ist nicht erst dann förderungswürdig, wenn er gesellschaftspolitisch aufgeladen wird.
Gesellschaftspolitisch aufgeladen ist momentan quasi alles. Corona und der Ukraine-krieg sind die alles beherrschenden Themen. Themen, die jeden Einzelnen betreffen, die unseren Wohlstand bedrohen. Haben Sie manchmal Angst, dass der Sport ein Luxusgut wird, das sich künftig viele nicht mehr leisten können?
Wer in diesen Zeiten nicht auch mal Momente der Angst hat, ist kein Mensch, glaube ich. Aber wir haben in der Pandemie gesehen, dass unser System der Sportvereine, das schon so oft als träge und rückständig beschimpft worden ist, eine große Bestandskraft hat. Ja, es gab Mitgliederrückgänge, aber die Vereinslandschaft ist nicht auseinandergebrochen – und aktuell gehen die Zahlen wieder langsam nach oben.
Explodierende Energiekosten könnten für die Sportvereine aber eine noch größere Prüfung werden.
Ja, das stimmt. Und dafür gibt es ja auch noch überhaupt keine Lösung. Wenn jetzt also über Entlastung für Privathaushalte gesprochen wird, dann muss die Politik unbedingt auch die Entlastung der gemeinnützigen Vereine mitdenken. Sowas kann Vereine völlig aus der Spur werfen, zumal nach Corona die Reserven gerade bei denjenigen Vereinen aufgezehrt sind, die eigene Sportstätten unterhalten.
Vielleicht eine banale Frage: Ist für den LSB eine Landtagswahl die wichtigste Wahl?
Ja, eindeutig. Wir bekommen das Geld, mit dem wir arbeiten können, zu einem Großteil vom Land – hoffentlich auch künftig durch eine mehrjährige Vereinbarung mit uns gesichert.
Geld, das Sie auch für Schwimmbäder dringend brauchen. Seit
Wir dürfen die Hoffnung ja nicht aufgeben. Das Problem kann aber nur bewältigt werden, wenn man bereit ist, aus den üblichen Denkgewohnheiten auszubrechen. Es hilft uns keine zehnte Studie zu dem Thema und auch keine zehnte Anhörung im Landtag mit den ewig selben Experten und den ewig selben Aussagen. Wir müssen uns schlichtweg von einigen Standards verabschieden. Man kann eine Sportschwimmhalle heute zu viel niedrigeren Kosten bauen, als das in Deutschland immer gedacht wird. Es geht nicht um Palmen, Saunalandschaft und ein Restaurant nebenan, sondern um ein Becken zum Schwimmen lernen und trainieren.
Und wer soll die Neubauten am Ende bezahlen? Die Kommunen sind doch klamm.
Das Land müsste mit Investitionen helfen, der Sport müsste bereit sein, selbst in eine Betreiberverantwortung zu gehen, und die Kommunen müssten bereit sein, einen Betriebskostenzuschuss zu zahlen. Natürlich muss das Bad am Ende auch irgendwo stehen, also müsste von den Kommunen das Grundstück kommen. Mit diesem Dreiklang kann es gelingen.
Wenn jährlich 75 Prozent der Kinder die Grundschule verlassen, ohne sicher oder überhaupt schwimmen zu können, sollte ja genug Druck da sein.
Natürlich. So eine Quote ist kein gutes Zeugnis. Aber das Problem geht ja über das Schwimmen hinaus. Aus meiner Sicht fängt alles mit dem Sport in der Schule an. Und dort haben wir die größten Defizite. Das betrifft den Schulsport genauso wie Bewegungsangebote im Ganztag. Im Ganztag ist in den vergangenen zehn Jahren in NRW zwar schon Einiges passiert. Trotzdem brauchen wir eine Initiative für mehr Bewegung in der Schule, und natürlich auch in der Kita. Es ist ja ein Witz, dass wir als LSB Bewegungskindergärten zertifizieren. Eigentlich müsste jede Kita automatisch eine Bewegungs-kita sein. Ohne mehr Sport und Bewegung in der Schule werden wir in 20 Jahren keine deutschen Olympiasieger mehr haben.
Muss der Sport aufpassen, dass er sich nicht überfrachtet, nur um seine gesellschaftliche Relevanz an jeder Stelle zu dokumentieren?
Wir dürfen der Vereinsbasis den Rucksack an Ansprüchen nicht zu voll packen. Das kann nicht funktionieren. Wenn ich als Vereinsvorsitzender erst einmal schauen muss, wer mir die Tornetze fürs Wochenende flickt, bin ich sicherlich nur bedingt empfänglich dafür, dass ich auch noch soziale Projekte auf die Beine stellen soll. Klar muss sein: Nur wenn im Verein der Betrieb läuft, dann kann ich auch die positiven Effekte für die Gesellschaft erzielen.
Wäre „positiv“auch Ihr Attribut für den Neustart des DOSB?
Wir brauchen den DOSB als starke Stimme in Berlin. Eine, die dem Sport Gehör verschafft. Und wir brauchen ihn als denjenigen, der Dinge, die im Sport auf Länderebene
Zuletzt sicher in einer hinderlichen Art und Weise. Was wir in Deutschland brauchen, ist erst einmal eine Rückbesinnung auf das, was Sport der Gesellschaft bringen kann. Ein Gefühl dafür, wie wertvoll es ist, wenn sich viele Menschen bewegen, Freude daran haben, über Sport ihre Gesundheit zu erhalten, Gemeinschaft finden. Und wenn wir das politisch breiter auf der Agenda haben als in den vergangenen 10 bis 20 Jahren, dann kann der Boden bereitet werden für eine deutsche Olympiabewerbung. Der Weg dorthin muss zunächst einmal das Ziel sein. Deutschland kann Olympische Spiele ausrichten und sollte Olympische Spiele ausrichten. Es muss Teil der DNA des Deutschen Olympischen Sportbundes bleiben, Olympische Spiele ausrichten zu wollen. Würde er das nicht wollen, wäre das für mich gleichbedeutend mit einer Absage an den Leistungssport an sich. Das wäre fatal.