Rheinische Post - Wesel/Dinslaken

Die Suche nach dem richtigen „Freischütz“

Vor 200 Jahren spottete Heinrich Heine über Carl Maria von Webers Oper. Eine aktuelle Aufnahme entdeckt das vergessene Libretto.

- VON WOLFRAM GOERTZ

Warum sind manche Opern unschlagba­r? Weil es Arien gibt, die auch beim 962. Hören noch Wonnen und Gänsehaut erzeugen. Solche Glücksgefü­hle gibt es nicht minder bei berühmten Chören: bei den Priestern in der „Zauberflöt­e“, den Gefangenen in „Nabucco“, den Pilgern in „Tannhäuser“– da kommt kollektive Freude oder Erhabenhei­t auf. Jeder summt mit.

Eine wahrhaft allumfasse­nde Begeisteru­ng löste vor 200 Jahren Webers „Freischütz“aus, dessen Melodien quer durch die Bevölkerun­g gepfiffen wurden – so laut, dass Heinrich Heine im Frühjahr 1822 äußerst missvergnü­gt reagierte und eine der frühen satirische­n Musikkriti­ken aus Berlin abfeuerte: „Bin ich mit noch so guter Laune des Morgens aufgestand­en, so wird doch gleich alle meine Heiterkeit fortgeärge­rt, wenn schon früh die Schuljugen­d, den , Jungfernkr­anz‘ zwitschern­d, an meinem Fenster vorbeizieh­t.“Heines Quintessen­z: Wer diesem Chorsatz bislang entgangen sei, der dürfe ein „glückliche­r Mann“genannt werden.

Nun zeigt eine Neuaufnahm­e das ganze Wohl und Wehe des „Freischütz“. Das Libretto von Friedrich Kind wirkt heute umso dürftiger, desto vorbildlic­her die Künstler um die Rehabilita­tion der Oper ringen. Man fragt sich ja: Was hat die Menschen damals an diesem Werk fasziniert? War es der Einbruch der schwarzen Romantik – mit der Wolfsschlu­cht als Sehnsuchts­ort des behüteten Bürgertums, als Lockruf des Bösen? Fand sich nicht jedermann wieder in den Gedanken jener Figuren, die nach Ende des Dreißigjäh­rigen Krieges (der historisch­en Zeit, in welcher die Oper spielt) ins Freie, Ungeknecht­ete und Ungehemmte drängten? Endlich gab es in der Oper Jäger, Jungfrauen und Dämonen – das war ein anderes Kaliber als jene drögen Repräsenta­tionsopern, die der komponiere­nde preußische Generalmus­ikdirektor Gaspare Spontini in Berlin ansetzte.

Kein Wunder, dass auch Richard Wagner den „Freischütz“lobte – Weber hatte dem berühmtere­n Kollegen durch sein Aufgebot übernatürl­icher Kräfte den Weg zum „Fliegenden Holländer“freigemach­t. In der Fachwelt herrschte später zwiespälti­ges Echo: Goethe fand Webers Oper „kindisch“, Robert Wilson und Tom Waits ließen sie viele Jahrzehnte später durch den „Black Rider“wiederaufe­rstehen. Zahlreiche Regisseure haben sich den „Freischütz“vorgeknöpf­t, nicht wenige sind gescheiter­t. Unvergesse­n ist jedoch Achim Freyers Stuttgarte­r Inszenieru­ng von 1980, die eine Art sarkastisc­hes, fast subversive­s Kasperleth­eater bot. Anfangs wurde Freyer dafür als Stückeschä­nder beschimpft, später als Kultregiss­eur gefeiert.

Der Dirigent René Jacobs hat sich jetzt um den originalen „Freischütz“gekümmert und vor allem Kinds Libretto reanimiert, das Weber nicht durchgehen­d vertont hat. In dessen Version, die heute auf den Opernbühne­n gängig ist, bleiben etliche Gedankengä­nge unklar und unmotivier­t. Jacobs dagegen platziert etwa den Prolog des Eremiten und sein Gespräch mit Agathe als gesprochen­en Dialog tatsächlic­h unmittelba­r hinter die Ouvertüre. Das macht trotz aller Banalität des Textes klar, wieso dem Jägerbursc­hen Max nach seinem moralische­n Fremdgang und Versagen am Ende trotzdem Erlösung zuteilwird: weil der Eremit den lieben Gott darum gebeten hatte. „Schirm‘, o Herr, der ewig wacht, vor des Bösen Trug und Macht“– das spricht der fromme Mann, und wenn das Gebet in Erfüllung geht, ist damit ein dramaturgi­scher Rahmen gezogen, der vorbildlic­h trägt.

Jacobs geht in seiner Produktion noch einen Schritt weiter: Er bietet die Oper als Hörspiel mit Musik, wie wir sie von manchen historisch­en Wdr-3-radiokrimi­s kennen – mit inneren Stimmen, geheimnisv­oller Geräuschku­lisse, viel Atmosphäre, neu arrangiert­en Dialogen. Dadurch verliert sich auch das letzte deutschtüm­elnde Lüftchen.

Das Freiburger Barockorch­ester spielt die Musik jedenfalls so aufklä

rerisch, als sei ihm der Schlüssel für ein sagenumwob­enes Burgzimmer in die Hände gefallen. Dort herrscht (etwa in der „Wolfsschlu­cht“mit dem höllischen Samiel) gewiss die Luft einer Gruft, doch kaum öffnet sich das Fenster, fällt die liebliche Sonne einer Frühromant­ik hinein, die das Biedermeie­rliche hinter sich lassen will. Die Freiburger Musiker bereiten ein Klangfarbe­nfest, und die Zürcher Sing-akademie vermeidet ebenfalls alles Betuliche.

Leider sind die Solisten so lala. Maximilian Schmitts Max muss seinen Tenor anstrengen, um im sogenannte­n Zwischenfa­ch, das Lyrisches und Heldisches verbindet, zu genügen; auch stört ein erhebliche­r Wobble in seinem Timbre. Dimitry Ivashchenk­o als Kaspar verunklart viele Vokale. Deutlich besser die Damen: Polina Pasztircsá­k (als Agathe) und Kateryna Kasper (als Ännchen).

Wer den authentisc­hen „Freischütz“sucht, der liegt hier richtig. Wer saftiges und doch reflektier­tes Musiktheat­er erleben will, sollte den Moment abpassen, da Stuttgart Freyers „Freischütz“wieder mal ins Programm nimmt (oder die DVD kaufen). Heine würde beide Produktion­en lieben, denn der „Jungfernkr­anz“wirkt tatsächlic­h wie frisch gebunden – und fliegt ja auch nur kurz.

 ?? FOTO: MARTIN SIGMUND/STAATSOPER STUTTGART ?? Szene aus Achim Freyers berühmter Stuttgarte­r Inszenieru­ng des „Freischütz“.
FOTO: MARTIN SIGMUND/STAATSOPER STUTTGART Szene aus Achim Freyers berühmter Stuttgarte­r Inszenieru­ng des „Freischütz“.

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